Shibari-Ästhetik

Über die besondere Ästhetik des Shibari.

Der wichtige Begriff hier lautet Kunst. In einigen früheren Artikeln habe ich bereits über BDSM und teilweise über die Ästhetik der Szene geschrieben. Hier könnt Ihr die Texte nochmal nachlesen:

Freiheit, Geborgenheit, BDSM

Sorck: Frau Major

Seit zwei Tagen habe ich eine vage Idee im Kopf, der ich in diesem Beitrag nachgehen möchte, weil ich weiß, dass ich schreibend anders denke. Beim Shibari geht es nicht darum, jemanden einfach zu fixieren, sondern darum, dies kunstvoll zu tun. Praktisches wird mit Ästhetischem verbunden und dieses Praktische wiederum dient üblicherweise der Erotik. Wo immer derart unterschiedliche Aspekte aufeinanderprallen, droht Kunst zu entstehen.

Shibari ist das Einfangen einer lebendigen Fotografie. Die künstlich hergestellte Position der gefesselten Person wird mithilfe von Seilen fixiert, wie eine in Pose gesetzte Person mithilfe von Pinselstrichen (einzelner Haare, wie kleine Seile, in Farbe getaucht) auf die Leinwand gebunden wird. Durch die zusätzliche Dimension, die die Malerei nur andeuten kann, ähnelt Shibari-Kunst eher Bildhauerei: Eine Figur, fixiert im Augenblick. Doch die Bildhauerei unterscheidet sich wiederum durch ihre Beständigkeit vom Shibari, denn dieses ist beschränkt durch die Vergänglichkeit des Materials – der Mensch ist vergänglich und die Position, in die er geschnürt wird, kann ohne gesundheitliche Schäden nicht ewig gehalten werden. In diesem Sinne wäre Shibari verwandt mit Street Art, dessen Essenz die Vergänglichkeit ist. Sie wird übermalt von anderen Künstler*innen oder Gegnern dieser Kunst, zerstört durch das Wetter oder durch den Abriss der Wände, die ihr als Untergrund dienen. Es wäre für Street Art-Künstler*innen aber eher ungewöhnlich, wenn sie ihre eigenen Kreationen selbst auflösen würden, wie man es beim Shibari tut.

Aussage ist ein wichtiger Punkt von Kunstwerken, doch gibt es etliche Beispiele, in denen Aussage keinerlei Bedeutung besitzt, sondern Konsequenz (im Sinne einer Entwicklung, beispielsweise monochrome Gemälde als Höhepunkt des Reduzierungszwangs in der modernen Kunst), Technik, Provokation oder reine Ästhetik. Shibari könnte man als aus einem Handwerk entwickelten Kunstform definieren, in der Aussage hinter Technik und Ästhetik zurücktritt, wobei die Technik wiederum sowohl im Dienste der Ästhetik steht als auch für sich Bedeutung trägt. Das Material könnte interessanter kaum sein: Der Mensch, verschnürt zu einem Gemälde. Durch die ständige Veränderung des Menschen wird jede noch so perfekte Shibari-Installation mit jeder Wiederholung zu einem neuen Werk, immer einzigartig.

In Bezug zum Beitrag über den Begriff der Begrenzung wäre noch interessant, dass dieser Aspekt besonders stark beim Shibari hervortritt. Der Körper wird in Segmente eingeteilt, Seile werden zu Bilderrahmen und die Haut zum Gemälde, der Körper wird zu einem Mosaik, und doch ist das Werk nur als Ganzes Kunst. Am Ende hat man einen Ausschnitt aus einem Leben, einen begrenzten Menschen, frei und vollständig, befreit von Verantwortung für eine Weile, freiwillig zum Objekt gemacht, das den eigenen Willen beurlauben darf.

Ich darf nicht unerwähnt lassen, dass es im Roman Sorck eine Szene mit Bondage-/Shibari-Elementen gibt. Die Passagiere sind nicht gefesselt, aber bewegungsunfähig und wehrlos, während die Kellner zum Teil verschnürt sind, sich aber frei bewegen. Das menschliche Leben ist eine Ansammlung von Widersprüchen, und häufig sind jene unfrei, die frei scheinen, und umgekehrt.

Es gibt etwas an diesem Themenfeld, das ich nicht recht greifen kann und das mich beschäftigt. Worauf möchte ich hinaus? Wonach suche ich? Vielleicht ist es wieder die Frage nach Freiheit, Kontrolle und Realität (beziehungsweise der subjektiven Wahrnehmung dieser). Was dem einen Menschen eine Höllenvorstellung ist, ist dem anderen eine Erlösung. Niemand möchte sich wehrlos fühlen. Doch was sind wir anderes als wehrlos, wenn wir jemandem vollends vertrauen und uns nackt zu ihnen legen, schlafend oder wachend, Hände an verletzlichen Stellen des Körpers zulassen? Vertrauen ist wohl der Knackpunkt, Vertrauen und Hingabe. Damit wäre beim Shibari nicht bloß der Künstler/die Künstlerin dem Werk ergeben, sondern auch das (lebendige) Werk dem Künstler/der Künstlerin. Wenn Literatur als Dialog zwischen Autor*in und Leser*innen verstanden werden kann, wäre Shibari der Dialog zwischen Werk und Künstler*in – ein echter Dialog, nicht ein indirekter. Oder?

Möglicherweise werde ich Antworten auf meine Fragen und zufriedenstellende Endpunkte für meine Gedankengänge zu diesem Thema finden. Dann teile ich sie mit euch. Sollte ich keine Endpunkte finden, werden weitere schlecht verknüpfte Seile in meinem Kopf herumtreiben. Was ist besser? Lose Seile, die man vielleicht niemals verknüpfen kann, oder ein gordischer Knoten, der sich nur lösen lässt, indem man ihn zerstört?

„Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland“: Eine Analyse

Eine Analyse des Songs “Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland” der Band “Terrorgruppe”.

1997 hat die inzwischen zum musikalischen Kanon Deutschlands gehörende Kapelle Terrorgruppe ein episches Meisterwerk von knapp 3 Minuten Länge unter dem Namen Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland veröffentlicht. In diesem Blogartikel möchte ich eine dosenbierzischende Analyse versuchen.

Weder ein Vergleich mit der orchestralen Schwere von Brahms noch mit der tänzerischen Leichtigkeit Mozarts werden Terrorgruppe wirklich gerecht. Dies mag daran liegen, dass sie Deutschpunk spielten oder aber an der Tatsache, dass sie die Klassik und die mit ihr verbundenen Einschränkungen längst hinter sich gelassen haben.

Der Songtext beginnt mit der Verkündigung der Unwissenheit des Großteils der deutschen Bevölkerung, die Tätigkeiten des lyrischen Ichs anbelangend,

Millionen dumme Deutsche wissen nichts davon.
Tausend Politessen hab’n nichts mitbekommen.

gefolgt von einem Ausdruck des Außenseitertums, der fehlenden Wertschätzung eines einschränkenden Systems bis hin zum völligen Unverständnis für dessen Regeln und die Akzeptanz jedweder daraus erwachsenden Konsequenz:

Ich breche alle Regeln, Ampeln kenn’ ich nicht,
Fahr täglich eine Oma um, die dann zusammen bricht.

Die spüren die Ehrlichkeit der Aussage und irgendwo tief in uns regt sich das Verlangen, es dem rebellischen lyrischen Ich gleichzutun, durch die Straßen zu gleiten, frei zu sein von der Oppression der Politessen und der eingefahrenen Meinung von Millionen dumme(n) Deutsche(n). Die simple Erkenntnis, dass ein Brett mit Rollen, ein sogenanntes Skateboard, die Freiheit repräsentieren und damit wichtiger werden kann als alles andere im Leben, verdient einer mehrfachen Betonung, und mit Recht ist der lyrische Ich stolz auf seine Entdeckung:

Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland uuhuuhu
Das hab ich schon vor vielen Jahren erkannt uuhuuhu

Man beachte die lautmalerische Unterstützung der Worte! Klingt nicht der Schrei eines Vogels in freier Natur heraus? Hören wir nicht das Zischen des Skateboarders und damit seine Kritik an der Schnelllebigkeit unserer Zeit? Möglicherweise. Das lyrische Ich jedenfalls gibt sich mit einem einfachen Leben zufrieden, denn es will nur gleiten, nach allen Seiten, schließlich sei das Skateboard […] wichtiger. An dieser Stelle, Ende der ersten Strophe, wird noch offen gelassen, was am anderen Ende des Vergleiches steht: wichtiger als was?

Strophe Zwei verdeutlicht die Nichtanerkennung und den offen ausgesprochenen Widerstand der Öffentlichkeit gegen das Vorhaben freien Lebens innerhalb einer indoktrinierten Gesellschaft, bis hin zur Forderung nach einer Rückkehr zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Diese Forderung kann als Aufgabe der Freiheit und der Akzeptanz sich als Sicherheit verkaufender einschränkender und quasi-faschistoider Überwaschungsstrukturen gelesen werden. Die Frage wird aufgeworfen: Sind wir bereit, unsere Freiheit für etwas mehr Sicherheit zu verkaufen? Sind wir bereit, unsere Jugend, verkörpert durch das lyrisch Ich, der uniformen Gesellschaftsordnung zu unterwerfen, notfalls mit Gewalt? Ist es wirklich das, was wir wollen? Angesichts der Veröffentlichungszeit (1997), also vor 9/11, erscheint der aufgeworfene Gedanke beinahe prophetisch. Hier nun die eben analysierten Zeilen:

Millionen dumme Deutsche haben ein Problem,
Wenn sie mich auf meinem Skateboard fahren seh’n.
Sie schreien mir nach der gehört ja ins KZ,

Doch Obacht! Hier kommt der Konter, der Präventivschlag des lyrischen Ichs und die Betonung der in Sexualität ausgelebten Freiheit, die mit der im Text propagierten Lebensform einherkommt und diese betont:

Dabei hatte ich schon fast alle ihre Töchter im Bett.

Können wir eine Andeutung der Vermehrung des freiheitlichen Gedankenguts herauslesen? Ist es möglich, dass nicht bloß Hedonismus gepriesen, sondern sogar Missionsarbeit für die freie Liebe gefordert wird? Vergessen wir nicht die bekannte Missionarsstellung! Vergessen wir auf der anderen Seite nicht ein weiteres Lied von Terrorgruppe: Hedonistische Heilsfront.

Was nun folgt, ist die ultimative Erklärung der Wichtigkeit der individuellen Freiheit, besonders aber nicht ausschließlich im Vergleich mit anerkannten und nicht mehr hinterfragten Institutionen. Außerdem Religionskritik.

Mein Skateboard ist wichtiger…
…als…
…Deutschland…
…Europa…
…Amerika…
…die Welt…
…das Universum…
…der Verkehrsminister…
…Gott……und das Geld

Nachdem wir diese eindrucksvollen Zeilen auf uns haben wirken lassen, betrachten wir für einen Moment die Reihenfolge der Aufzählung. Erkennen wir eine Klimax? Eindeutig. Das Skateboard, das heißt die Freiheit, ist wichtiger als der Staat, wichtiger als die Völkerverständigung (repräsentiert durch Europa), wichtiger als die Popkultur und die kulturell-hegemonisch verbreiteten und akzeptierten Kulturgürter (Amerika – gemeint sind natürlich die USA, die sich selbst häufig als America bezeichnen und damit den Kontinent als ihnen zugehörig betrachten; es liegt also eine doppelte Kritik und Betonung der kulturellen Hegemonie vor), wichtiger als all das, sogar als der Verkehrsminister (hier, um im Bild zu bleiben, die Sicherheit, die Kontrolle, die Staatsgewalt) und die Religion. Dass das Geld noch nach Gott und dem Staat (Verkehrsminister) aufgezählt wird, also Höhepunkt der Liste, verdeutlicht nicht bloß eine allgemeine Kapitalismuskritik, sondern sagt aus, dass Kapitalismus der Freiheit des einzelnen im Wege steht. Des Weiteren wird das sich gegenseitig stützende Dreigespann aus Religion, Staat und Wirtschaft in dieser Aufzählung entblößt.

Doch das lyrische Ich zeigt durch das singuläre Verlangen (Ich will nur gleiten) die Bedeutungslosigkeit der kritisierten Institutionen im Angesicht der individuellen Freiheit. Und wird hier nicht eine tiefe Wahrheit offenbart? Wollen wir nicht alle gleiten? Wollen wir nicht alle schwerelos sein in unserer eigenen Geschwindigkeit und losgelöst von Normen und Vorschriften? Mir jedenfalls geht es so. Mein metaphorisches Skateboard ist wichtiger. Vielen Dank.

Verlaufen

Über das Verlaufen, die Orientierungslosigkeit und “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Der Begriff verlaufen hat mich im Rahmen des Schreibens von Das Maurerdekolleté des Lebens, auf der Suche nach einem passenden Cover sowie während des allgemeinen Veröffentlichungsprozesses sehr beschäftigt.

Als Kind habe ich mich einmal verlaufen. Ich erinnere mich an gelbe Felder und eine schmale Straße. Als ich einen Punkt fand, den ich wiedererkannte, musste ich feststellen, dass ich nicht besonders weit abgekommen war. Viele Jahre später passierte es mir nachts häufiger als mir lieb ist, dass ich mich betrunken auf dem Heimweg verlief. Es handelte sich fast immer um die gleiche Strecke, jedoch suchte ich Abkürzungen, die den Weg stets verlängerten und die gelegentlich komplett im Kreis verliefen. Es existieren Heimweg-Handyfotos von Bächen und Waldlichtungen, von denen ich noch heute nicht weiß, wo sie liegen. Mein Orientierungssinn war in dieser Zeit legendär unterentwickelt und hat sich nicht groß verbessert.

Schlimmer als dieses Verlaufen ist meiner Meinung nach das transzendentale Verlaufen in doppelter Hinsicht, die Orientierungslosigkeit in Sinnfragen (oder der Sinnfrage) und das Verwischen der Linien, das mit einem Sinnverlust und kompletter (scheinbarer) Gleichgültigkeit einherkommt. Wenn die Sicht unklar wird und alle Richtungen, auch die grausamsten, begehbar scheinen, wünschen sich die meisten irgendeine Art der Orientierung zurück – einen Strick zum Festhalten, wenn es sein muss. Man sucht und man findet oder eben nicht. Das ist der (Ver)Lauf des Lebens.

Verlaufen im Sinne eines Verwischens können auch die Realitätsebenen – gewollt und kontrolliert in der Literatur oder gewollt und unkontrolliert durch Drogen. In Sorck passiert beides. Martin Sorck feiert mit der Crew des Kreuzfahrtschiffs und lässt sich eine Kombination verschiedener, ihm unbekannter Substanzen verabreichen. Warum interessiert ihn nicht, was er da nimmt? Auch er kennt seinen Weg nicht, weiß nicht, wo er hinzugehen hat. In Das Maurerdekolleté des Lebens verliert Protagonist Theo Schritt für Schritt die Orientierung, während er tiefer ins Labyrinth gerät. Theo glaubt, dass er seinen Weg kennt, dass er in gewisser Weise vorbestimmt ist. Man hat ihm gesagt, wo er hinzugehen hat. Aber so einfach ist es nie, oder? Es gibt Vorgaben und Karten, es gibt die Entscheidungsfreiheit. Aber was nutzt das alles, wenn man die Karten nicht lesen kann und alle Entscheidungen auf vagen Vermutungen darüber beruhen, was sich hinter der nächsten Ecke befinden könnte? Ich weiß, dieses Bild verliert seine Wirkung in Zeiten von Smartphones und Google Maps. Aber hey, ich hatte auf meinen Suff-Verirrungen immer mein Smartphone dabei und nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass ich mich hätte nach Hause navigieren lassen können.

Findet ihr es nicht faszinierend, dass die Mathematik über zwei Linien aussagen kann, dass sie sich unendlich weit annähern, aber niemals berühren werden? So wird der Verlauf von Parallelen zur Metapher für die Unmöglichkeit der totalen Annäherung einer Person an eine andere. Man kann schier daran zerbrechen, jemanden an sich zu pressen und ihn doch niemals nah genug haben zu können. Es gibt eine wunderschöne Liebesszene bei Remarque (Die Nacht von Lissabon?), in der er genau diese Situation beschreibt, aber konvexe und konkave Formen als Bild wählt. Mithilfe von Vergleichen mit Farbverläufen könnte man sich aus der Parallelen-Bredouille wieder retten: aus zwei verschiedenen Farbflächen kann sich eine dritte bilden. One and one is one, haben schon Medicine Head festgestellt.

Immer mal wieder sollte man innehalten und sich neu orientieren. Es ist ganz egal, ob es sich um einen Blogeintrag oder die Ausrichtung des gesamten Lebens handelt. Voranzugehen ist erheblich angenehmer, wenn man weiß, wo man hingeht. Ein Teil von mir möchte hinzufügen: … und man wissen könnte, wann man angekommen ist.

Meine Orientierung und meine Aufgabe habe ich dank des Schreibens weitestgehend (wieder)gefunden. Theos Aufgabe in Das Maurerdekolleté des Lebens ist es, zu suchen, damit andere finden können.

Sorck: Frau Major

Über die Figur “Frau Major” aus dem Roman “Sorck”.

Frau Major Alexa Enesseiova, eine Nebenfigur im Roman Sorck ist die Hauptfigur dieses Beitrags.

Steigen wir direkt ein: Warum Frau Major und nicht Frau Majorin? Tatsächlich habe ich darüber lange nachgedacht und mit Freund*innen diskutiert, was korrekt, was angemessen, was in Ordnung und was passend sei. Die Figur ist weiblich und Offizieren, also wäre Majorin passend, sollte man meinen. Bei meiner Recherche fand ich jedoch Majorin jedoch nur als Rang bei der Heilsarmee, und Enesseiova ist weit entfernt davon, eine Heilsarmee-Offizieren zu sein. Sie ist streng und hartherzig. Der Klang der Kombination Frau Major passt absolut. Daher bin ich bei dieser Form geblieben und hoffe, dass man den Grund für diese Entscheidung im Buch ebenfalls erkennen kann.

Gehen wir von ihrem Rang zu ihrem Namen: Alexa Enesseiova. Dafür muss ich etwas weiter ausholen, obwohl es eigentlich sehr simpel ist. Sorck ist dystopisch angehaucht, das Grundthema ist Kontrolle, und eine Form von Kontrolle ist Information. Beim ersten Kontakt mit dem Schiffspersonal wird Martin Sorck unmissverständlich klargemacht, dass man zu ihm ein Profil angelegt hat, das beispielsweise die von ihm besuchten Websites umfasst. Die Reisegesellschaft sowie ihre Partner haben Zugriff zu diesen Informationen. Später erfährt man, dass ebendiese Reisegesellschaft mit Russland zusammenarbeitet. Im Grundkonstrukt der Geschichte ist Russland der Höhepunkt der Fremdkontrolle beziehungsweise die Station des größten Kontrollverlusts für den Protagonisten. Daher wird auch die dystopische Informationsproblematik bei der Einreise nach Sankt Petersburg besonders deutlich. Auftritt Major Enesseiova. Alexa, dieser Vorname sollte inzwischen allen Menschen bekannt sein, weil er auch eine der verbreitetsten Abhörmaschinen und Datensammelanlagen der Welt bezeichnet. Kund*innen kaufen Geräte mit diesem System selbst und machen sich für ein bisschen Bequemlichkeit wiederum zur Ware, sie verschenken Privatsphäre. Ob man das tut, muss jede*r für sich selbst wissen, aber häufig hat man gar keine Wahl mehr. Smartphones haben und brauchen die meisten und wenn es nicht Alexa ist, ist es ein anderes Abhörprogramm, das man damit herumträgt. Hat man kein Smartphone, sind diese Programme im Betriebssystem integriert oder mit den Websites verbunden, die man besucht. Hat man auch kein Internet, wird man indirekt über die Geräte der anderen überwacht. Es klingt fast nach Verschwörungstheorie und ist doch einfach Fakt.

Nicht nur Firmen nutzen die gesammelten Informationen, sondern auch Nachrichtendienste, deren Job nunmal Informationsbeschaffung ist. Durch etliche Skandale am bekanntesten ist wohl die NSA. Enessei ist die ungefähre lautmalerische Variante von NSA – man muss natürlich die Buchstaben e und i einzeln aussprechen. Das Suffix -owa (oder -ova, was ich optisch schöner finde) deutet im Russischen schlicht auf einen Frauennamen hin.

Dass Bereiche des BDSM in mehreren Bildern im Roman auftaucht, besonders im Kontext der Kontrolle beziehungsweise der freiwilligen Aufgabe dieser, habe ich mehrfach erwähnt. Nachzulesen beispielsweise hier: Freiheit, Geborgenheit, BDSM. Die Figur der Frau Major passt ebenfalls in diesen Kontext. Inwiefern eine Figur, die Alexa heißt und ein Fetisch-Outfit trägt, das die meisten direkt mit BDSM assoziieren, einen Bezug zur freiwilligen Abgabe der Kontrolle (in Form von Informationen und Überwachung allgemein) hat, ist vermutlich offensichtlich, wenn man die Verbindung einmal hergestellt hat. Im BDSM-Zirkeln ist eine eigene Ästhetik vorherrschend, die einen klaren Zweck erfüllt: Die Rolle innerhalb der Machtspiels zu verdeutlichen. Es gibt selbstverständlich Überschneidungen mit dem Fetisch-Bereich, in dem bestimmte Materialien oder Outfits einem eigenen Zweck dienen, und man sollte sich der Trennungen bewusst sein. Die Assoziation, die die allermeisten Menschen jedoch mit dem Auftreten der Figur der Frau Major haben werden, ist die einer Domina: schwarzes Latex, Reitergerte, streng aus dem Gesicht gestrichene Haare. In Anbetracht der Verwendung von BDSM-Optik oder -Vergleichen im Roman ergab es Sinn, dass eine derart strenge und mächtige Figur wie diese ebenfalls in der passenden Optik auftreten würde und dass diese Optik auf gleiche Weise genutzt würde wie in BDSM-Zirkeln auch. Es dreht sich alles um Macht, um Kontrolle, um die Verstärkung der dazugehörigen Gefühle und Rollenbilder, um die perfekte Ausgestaltung des Spiels.

Ein winziges Detail, das in der Szene mit Enesseiova auftaucht, verdient auch noch eine Erwähnung. Bei ihrem Auftritt verhaftet sie einen der Kreuzfahrt-Passagiere namens Hermann. Dieser Hermann trägt nicht ganz zufällig die äußeren Eigenschaften Hermann Burgers, der in seinem Roman Die künstliche Mutter ebenfalls einige überdimensionale Frauenfiguren hatte, die durch ihre Macht und ihr Auftreten allerdings eher eine Aussage über Mutterkomplexe sein sollten. Die Vermischung verschiedenster, scheinbar nicht zusammengehöriger Elemente und eine Sprache, die man wohl als ungewöhnlich bezeichnen kann, hat Burger stets verwendet und mich damit inspiriert. Eine kleine Hommage schien mir also angebracht zu sein.

Grund für die Verhaftung Hermanns ist natürlich, dass die Reisegesellschaft Daten gesammelt und geteilt hatte, die der fiktiven russischen Regierung nicht gefallen.

Frau Major Alexa Enesseiova könnte also als die Personifizierung von Unterdrückung und Macht gelesen werden. Im Spiel der BDSM-Bilder und im Kontext freiwillig aufgegebener Freiheiten und freiwillig abgegebener Daten muss sie aber auch anziehend sein. „Heimlich gafften die Umstehenden sie an und erkannten ihre eigenen Wünsche nicht mehr. Sie war L‘appel du vide als Person“, heißt es im Roman. Es ist fraglos angenehm, Geräte und Programme zu haben, die jeden Lebensschritt bequemer gestalten, aber solche Dinge müssen wir bezahlen. Eine wunderbare Aussicht zahlt man mit der Nähe zum Tod durch einen Sturz in die Tiefe, und manchmal erwischen wir den aufblitzenden Gedanken, wirklich springen zu wollen: L‘appel du vide, der Drang zu springen, der Ruf der Tiefe. Eigentlich wollen wir nicht springen, aber der Sog ist da. Auch wenn man die eigenen Daten nicht weitergeben möchte, will man die damit verbundenen Services nutzen. Sie sind doch so praktisch. Für ein bisschen Bequemlichkeit haben wir uns alle selbst zur Ware gemacht, mit der andere handeln. Solche und ähnliche Gedanken sollte diese Offizierin auslösen.

Das Maurerdekolleté des Lebens: Leseprobe

Leseprobe des E-Books “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Der Beginn von Das Maurerdekolleté des Lebens als kurze Leseprobe:

»Einen Apfel, Papiere und das Einladungsschreiben verstaute Theo sorgfältig in der Tasche. Er fühlte sich gut. Seine Kleidung war neu und sauber, die Haare gekämmt, die Fingernägel gereinigt und sein erster Job wartete auf ihn. Was genau er dort zu tun hätte, wusste er nicht. Er hatte am Telefon vor lauter Aufregung vergessen zu fragen. Immerhin hatte er eine Wegbeschreibung in der Tasche. Ordentlich zusammengefaltet. Theo hatte sie selbst angefertigt. Eine kleine Zeichnung und einige Pfeile: links, rechts, geradeaus. Sein Ziel war nicht weit entfernt, nicht schwer zu finden.

Ein kleines Problem trat jedoch auf. Er hätte an der Ampel vorm Haus die Straße überqueren müssen, doch war diese ausgeschaltet und ein unsympathischer Mann schraubte daran herum. Theo überlegte, ob er nicht einfach herübergehen sollte, ließ es aber bleiben, da ihm der Verkehr zu heftig schien. Brummend schossen kleine und große Autos vorbei. Von außen konnte man kaum erkennen, was in ihnen vorging. Er versuchte hineinzusehen, während er die nächsten Schritte plante. Sie rasten vorbei mit getönten Scheiben. Manche Fahrer trugen Sonnenbrillen. Wie ein reißender Fluss strömte der Verkehr vorbei
Unsicher fragte Theo den Bauarbeiter, wo er denn über die Straße käme. Dieser blickte ihn gar nicht erst an, zuckte mit den Schultern und deutete unbestimmt in Richtung der nächsten Kreuzung. Dennoch bedankte sich Theo brav und lief los.
Um den ursprünglichen Richtungsanweisungen noch folgen zu können, achtete er von Anfang an auf sämtliche Abweichungen und prägte sie sich ein. Ein paarmal zusätzlich abbiegen zu müssen, sollte kein großes Problem darstellen.«

Das Maurerdekolleté des Lebens ist als E-Book über Amazon und alle an das Tolino-Netzwerk angeschlossenen Plattformen (z.B. Thalia) zu haben. ISBN: 9783739490823

Blogeinträge zum Cover sowie zur Geschichte allgemein findet Ihr hier:

Das Maurerdekolleté des Lebens: Cover-Safari

Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten

Ameisen

Über Ameisen als Symbol in der Literatur.

In der Anime-Serie Neon Genesis Evangelion gibt es eine Szene, in der Shinji in der Bahn sitzt, durch die Stadt fährt und eine Ameise sieht. Er sagt, dass es ein Zeichen der wirklich Einsamen sei, dass sie Ameisen sähen. Dieses Bild habe ich immer geliebt und nie wieder vergessen. Es gibt nichts Einsameres als eine einzelne Ameise ohne Anschluss an die anderen.

Wenn in einem meiner Texte eine Ameise auftaucht, kann man sich sicher sein, dass Einsamkeit eine Rolle spielt. In Das Maurerdekolleté der Gefräßigkeit, der dritten Geschichte in Das Maurerdekolleté des Lebens, läuft Theo an Verletzten vorbei, die sich wie verletzte Schnecken über den Boden schleifen, während er wie eine Ameise an ihnen vorbeiläuft. Hier steht die Ameise auch für das Kriegerische in ihm und schlicht die Art, wie er stakst. Doch die Friss oder stirb-Attitüde, die er an den Tag legt, führt zwangsläufig zu einer Abkapselung, auch wenn diese nicht groß thematisiert wird. Sie klingt jedoch in der Kälte des Umgangstons, den er pflegt, mit, wie ich finde.

Ameisen überleben durch Zusammenarbeit, ein gemeinsames Ziel und klare Aufgabenverteilung. Jede einzelne Ameise ist Bestandteil von etwas Größerem. Denken wir besonders an jene Ameisenarten, die keine festen Bauten haben, sondern Konstrukte aus ihren eigenen Leibern erstellen, um sich zu schützen. Alle ineinander gehakt, alle gemeinsam. Das einzelne Wesen ist nur im Zusammenhang mit den anderen von Bedeutung. Ohne die anderen verliert eine Ameise alles. Das ist der Kern des Bildes der einsamen Ameise: Nicht nur ist eine Ameise meist mit Artgenossen zusammen, sondern sie verliert jeden Lebenssinn, jede Aufgabe, wenn sie von den anderen getrennt ist. Fühlt sich echte Einsamkeit nicht genau so an? So abgekapselt zu sein, dass jeder Sinn sich auflöst.

Uns im Westen könnte der Vergleich mit Ameisen übel aufstoßen, da wir viel von unseren Individualität halten. Wir sehen uns zuallererst als Einzelwesen und erst danach als Teil der Gesellschaft, in der wir leben. Ich bin Künstler, ich sehe das mit Sicherheit so. Doch nicht überall auf der Welt trennt man das eigene Wesen so sehr von Gesellschaft und Staat. In Kulturen, die diese Einbindung des Individuums in die Gesellschaft und seine Identifikation mit dieser stärker ausgeprägt leben, werden Menschen den Lebenssinnverlust durch Vereinzelung deutlicher spüren, vermute ich. Dennoch können auch wir das Bild verstehen.

Manchmal frage ich mich, ob die Suche oder Frage nach einem Lebenssinn nicht erst mit der Einsamkeit kommt, oder ob diese Suche Einsamkeit verursacht beziehungsweise verstärkt. Findet man keine Antwort auf die Frage, hilft es dem Ego sicherlich nicht.

Mir ist gerade ein anderer Ameisen-Vergleich eingefallen. Vorweg: Ich bin kein Biologe und erzähle das Folgende aus meiner Erinnerung an Dokumentationen. Also: Im Regenwald gibt es interessante Pilzarten, die sich auf Insekten (einige auf Ameisen) spezialisiert haben für ihre Fortpflanzung. Die Sporen des Pilzes setzen sich in einer Ameise fest und manipulieren diese wie ein Parasit. Eine befallene Ameise wird sich in der Nähe anderer Ameisen auf eine Erhöhung begeben. Dort sprießt der Pilz aus ihrem Körper heraus und verbreitet schließlich neue Sporen, die Ameisen befallen. Dies kann eine ganze Kolonie auslöschen. Daher wird eine befallene Ameise, sobald sie entdeckt worden ist, von anderen Ameisen aus dem Bau getragen und in ausreichender Entfernung liegen gelassen. Wo ist das Bild? Betrachten wir die Sporen als Ideen und jede Ameise, aus der ein Pilz bricht, als Ideen-Multiplikator (Künstler*innen, Politiker*innen etc.) wird es interessant. Vor manchen Ideen muss man den Bau schützen und manchmal werden neuartige Ideen mundtot gemacht, die gehört werden sollten. Man könnte die befallenen Ameisen auch als Außenseiter in Sachen Kunst oder Mode betrachten, deren Ideen, Optik, Sound o.ä. schließlich vom Mainstream absorbiert wird, wenn sie populär genug geworden sind (also wenn die Sporen weit genug getragen worden sind). Durch die Ausrottung der Ameisenkolonie als Folge wären allerdings giftige Ideen die bessere Wahl als implizierte Bedeutung. Generell sollte man vorsichtig sein, Menschen mit Tieren und besonders mit parasitären Lebensformen zu vergleichen.

Was mache ich jetzt mit diesen Gedanken? Was macht ihr damit? Vielleicht sitzt ihr bald auf einer Wiese (mit ausreichend Abstand zu anderen Personen), schaut auf den Boden, seht eine Ameise und stellt fest, dass ihr weniger einsam seid, als ihr sein könntet. Seht euch um! Ihr seid noch immer Teil der Kolonie.

Sorck: Eva

Über die Figur Eva im Roman “Sorck” und ihre mythologische Herkunft.

Für diesen Artikel werde ich weit ausholen müssen, einige Spoiler nicht umgehen können und mehrere Bilder des Buches aufschlüsseln. Daher empfehle ich dringend, nur weiterzulesen, wenn man das Buch bereits kennt.

Es soll um Eva gehen, die zentrale weibliche Figur des Romans Sorck. Ich werde weniger über ihre Auftritte im Buch schreiben als mehr über ihre Bedeutung, ihre Namensgebung und einige Details, die viele überlesen haben mögen.

Im Roman gibt es etliche mythologische und religiöse Bezüge, die man kaum übersehen kann. Dass der Name Eva aus der christlichen Tradition stammt, kann man sich denken. Eva war laut der heutigen Bibel die erste Frau, die Gott geschaffen hat (und zwar aus Adams Rippe). Meine Figur Eva ist in der Hierarchie der auftretenden Figuren die erste weibliche Figur, die wichtigste. Allerdings ist sie nicht wie die biblische Eva eine Dienerin des Mannes, sondern sehr viel mehr als das. Daher wird sie an einer Stelle beschrieben als die gezähmte Lilith, die freie Eva. In einer Version der Bibel, gegen die sich die (männlichen) Anführer der damaligen Christensekten entschieden haben, als sie die heute Bibel zusammenstellten, gab es eine Frau vor Eva – Lilith. Lilith war nicht aus Adams Rippe entstanden, sondern ihm gleichwertig geschaffen worden. Allerdings war sie zu gleichgestellt, was zu Stress führte, und dann wurde sie verbannt. Später tauchte Lilith als Dämonenfigur auf und wurde noch erheblich später hier und da als Symbol der Emanzipation verwendet. Die Umschreibung der gezähmten Lilith und der freien Eva habe ich verwendet, um meine Figur von den Charakterisierungen ihrer Namensgeberin loszulösen und gleichzeitig auch von denen ihrer Vorgängerin. Meine Figur Eva ist nicht die christliche Eva und auch nicht die (vor)christliche oder dämonische Lilith, sondern beides oder keine davon. Sie ist weder Symbol ungezügelter, kampflustiger Freiheit noch ist sie Symbol der Unterordnung und Anpassung, denn sie hat ihren Weg und ihren Frieden gefunden, indem sie sich gerade so viel anpasst, wie sie muss, gerade so viel unterwirft, wie sie möchte, und in alledem ihre Freiheit und ihre Eigenwilligkeit behält. Sie ist die freieste und zufriedenste Figur des Buches. Sie repräsentiert den Zwischenweg, den Martin Sorck nicht sehen kann – tatsächlich kann er sie beim ersten Auftritt nicht richtig sehen, da immer ein Lichtstrahl ihn blendet.

Der Roman Sorck kann als absurdistisches Werk gelesen werden. Der Protagonist hat alles verloren, inklusive einem Lebenssinn beziehungsweise dem Glauben an einen Lebenssinn. Laut der Philosophie Albert Camus’ gibt es drei Lösungen für dieses Problem: Selbstmord, Religion, Akzeptanz (und damit ein Sinnersatz). Diese drei Wege, besonders die ersten beiden, ziehen sich durch das gesamte Werk. Sorck zieht Suizid als Option in Betracht, ist umgeben von religiösen und mythologischen Bildern und besucht Kirchen. Eva ist ebenfalls in alle drei Wege verstrickt und zieht sich auf ähnliche Weise durch das Werk. Ihr allererster Auftritt auf der Party im Schiffsinneren enthält eine Beschreibung, die extrem aufmerksamen Leser*innen später wieder begegnet. Sie steht im Licht, trägt ein Kleid und richtet ihren Finger gen Himmel. Das ist die gleiche Pose, die die Heilige im Schrein in der Tallinner Kirche hat, die Martin besucht. Auf der Party bereitet Eva die Drogen vor (übrigens eine Verknüpfung zum wenigstens parasuizidalen Lösungsweg des absurdistischen Ansatzes), die Martin nimmt, und im Schrein hält die Heilige ein Weinfass – Symbol auch der Fruchtbarkeit. Unter der Heiligenfigur ist die lateinische Inschrift Terrae Mater Umidae, (gewidmet) der feuchten Mutter Erde, sowie ein Name in kyrillischer Schrift, die Martin nicht lesen kann. Der Name, der dort steht, lautet Mokosch. Mokosch ist eine Göttin im Pantheon der slawischen Mythologie, die Fruchtbarkeitsgöttin. Der Wortstamm ihres Namens ist mok = feucht und deutet auf den feuchten, fruchtbaren Ackerboden, die feuchte Mutter Erde, hin. Damit ist Mokosch inetwa die slawische Version der Aphrodite, der griechischen Fruchtbarkeitsgöttin und Mutter der Harmonia, die wiederum die Namensgeberin des Kreuzfahrtschiffes im Buch ist. Evas Verknüpfung mit allen Ebenen der Geschichte ist auch daran zu sehen, dass ihre Darstellung als Mokosch im Schrein auf die beiden Vögel weist, die die Gottheiten Bieleboh und Czorneboh repräsentieren. (Den entsprechenden Eintrag zu den beiden findet ihr hier: Zwei Vögel und die Ordnung im Chaos) Mokosch wurde häufig in Verbindung mit Wassergeistern, den sogenannten Vilen, dargestellt, was eine weitere Verbindung zum Schiff und dem Element des Wassers, das alle Stationen der Geschichte verbindet, zeigt.

Diese Verknüpfung Evas und Mokoschs, besonders in einer christlichen Kirche, bindet sie klar in den mythologischen und religiösen Kontext des Werkes ein. In Betracht auf die absurdistische Grundphilosophie des Werkes hat sie also eine Verbindung zu einem der rettenden Wege und rettet ihn ja tatsächlich am Ende. Allerdings repräsentiert sie, wie oben erwähnt, einen Zwischenweg. Eva ist nicht der Weg der Religion, sie ist schließlich nicht Mokosch, sondern teilt nur Eigenschaften mit ihr, beide stehen sich nahe, sind aber nicht eins. Eva ist nämlich auch, um es mit diesem grässlichen Begriff zu beschreiben, Martins Love Interest. Man könnte also sagen, dass die Liebe Martin rettet oder dass Liebe als Religionsersatz dient, aber das wäre mir zu kitschig. Eher würde ich folgendes sagen: Wer Sinn nicht auf höherer Ebene finden kann, findet ihn vielleicht auf der Erde, in anderen Menschen. Wenigstens Trost und Glück kann man dort finden. Das repräsentiert Eva – einen Gegenpart, der alles ersetzen kann. Hierbei geht es nicht um die Rettung des Mannes durch die Liebe der Frau, sondern um die Rettung oder Bekehrung des Menschen (oder bloß Hilfe für den Menschen) durch die Liebe. Mokosch ist die Göttin der Fruchtbarkeit und der Weiblichkeit – übrigens auch des Schutzes der Schafe, was eine witzige Nebenerscheinung ist, wenn man daran denkt, dass Martin sich häufig wie ein dummer Bock anstellt. Diese Weiblichkeits- und Fruchtbarkeitssache will ich nicht verstanden haben, wie oben erwähnt, als Rettung des Mannes durch die Frau oder durch die Liebe. Dass dem nicht so ist, sieht man wohl gut daran, dass Martin sie dafür hält und sie nach der Liebesnacht einfach geht. Es ist nicht ihre Rolle, ihn zu retten, sondern ihm zu zeigen, dass es auch anders geht. Ich sehe es so, dass Eva einen Widerpart darstellt, eine andere Seite, vielleicht eine andere Seite an Martin, die er erst entdecken muss. In der Spiegelfigur des Arsonovicz kann Sorck sich selbst reflektieren, während er in Eva Neues entdecken kann, und das ist es, was er braucht: etwas Neues, einen anderen Weg. Hier könnte ich nochmals auf die Verbindung der Mokosch-Darstellung im Schrein mit den Schöpfungsgöttern Bieleboh und Czorneboh eingehen, dem hellen und dem dunklen Gott, die sozusagen aus der Mischung beider die Welt erschaffen. Martin sieht alles dunkel und Eva ist anfangs das Licht und am Ende sind beide menschlicher: Er weniger dunkel, sie weniger hell. Die Fruchtbarkeitsgöttin erschafft neues Leben oder inspiriert dazu und neues Leben bedeutet eben auch wieder neu begonnenes Leben, Felder, die nach dem Winter wieder blühen, und Menschen, die nach kalten Phasen wieder am Leben teilnehmen können. Schöpfung und Wiederbelebung sind nahe verwandt, ganz besonders in der Literatur.

Eine kleine Bemerkung am Ende:

Früher gehörte ich zu den Schülern, die glaubten, dass all die Interpretationen Unfug seien, weil kein*e Autor*in sich wirklich derartige Gedanken machen würde. Nun, ich lag offensichtlich falsch.

Das Maurerdekolleté des Lebens: Cover-Safari

Über die Suche nach dem passendem Cover für “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Es soll heute um das Cover von Das Maurerdekolleté des Lebens gehen. Wie immer war es nicht ganz einfach, das Motiv zu entdecken.

Als die Frage nach dem Cover-Motiv anstand, fielen mir mehrere Möglichkeiten ein, die sich bei genauerer Betrachtung als nicht leicht umsetzbar oder als unpassend herausstellen sollten. Offensichtlich hätte man ein echtes Maurerdekolleté aufs Cover packen können. Aber wer würde das kaufen wollen? Es hätte außerdem den Eindruck erweckt, dass es sich um eine komische (und vermutlich platte) Geschichte handelte. Diese Option fiel also sofort wieder weg. Als passender empfand ich die Abbildung eines Labyrinths. Gezeichnete oder stilisierte Labyrinthe auf Buch-Covern kenne ich nur von Thrillern und aus ähnlichen Genres. Es wirkt außerdem schnell billig, wie ich finde. Ein Foto, eine Luftaufnahme, eines Labyrinths aus Baustellenteilen hätte mir gefallen. Doch fehlten mir dazu ein großer Platz, die Baustellenausrüstung, Mitarbeiter und eine Kamera-Drohne. Es sollte etwas Baustellenartiges sein. So viel stand irgendwann fest. Wir, mein guter und vielfältiger kreativer Freund Toby, der meine Cover erstellt, und ich, gingen auf eine erste Foto-Safari, machten Bilder, sammelten Ideen und unterhielten uns wie immer großartig. Danach folgten einige Tage mit Überlegungen.

Das ungefähre Motiv, nach dem wir schließlich auf der Suche waren, war ein langer Fußgängerweg aus Absperrungen (beispielsweise um eine auf dem Bürgersteig befindliche Baustelle herum), um den Beginn des Baustellenlabyrinths, in das der Protagonist Theo gerät, anzudeuten. Zu unserem Glück wuchsen in der Gegend rechtzeitig mehrere teils große Baustellen aus dem Boden. Wenn der Frühling kommt, blühen die ersten Blümchen und die Bagger befruchten den Boden mit neuen Internetkabeln oder so. Einige Tage vor der Realisierung, dass Corona in Deutschland angekommen war und man soziale Kontakte meiden sollte, gingen wir auf eine zweite Foto-Tour. Es entstanden einige sehr schöne Bilder (auch unabhängig vom Cover) an zwei verschiedenen Baustellen.

Ab diesem Zeitpunkt erreichten wir das nächste Level der Arbeit. Das beste und passendste Foto musste gefunden und bearbeitet werden. Ein Gehweg im Abenddunkel, begrenzt von Absperrungen, mit einem schönen Tunneleffekt. Das Bild zog den Blick bereits ohne Bearbeitung in sich hinein. So etwas hatte ich gesucht. Kurzfassung: Toby spielte mit dem Bild herum, bis das jetzige Cover nach etlichen Vorversionen fertig war. Bei diesem Herumspielen handelte es sich natürlich um viel Arbeit, die Zeit und vermutlich einige Nerven gekostet hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Leider konnten wir aufgrund der Viruskrise die Feinarbeiten nicht gemeinsam erledigen, sondern waren gezwungen, auf Entfernung kommunizieren. Direkte, gemeinsame kreative Arbeit hat etwas Erfüllendes, finde ich.

Was mag ich besonders an diesem Cover? Auf mich wirkt das Cover ein wenig bedrohlich, was einerseits an der dunklen Färbung liegt und andererseits an den gedoppelten Lichtern oben und mittig, die mich an Augenpaare erinnern. Der Weg im Zentrum des Bildes lässt keine Abweichungen zu, öffnet sich jedoch am Ende. Es scheint, man könne nach links oder rechts abbiegen. Da das Bild jedoch gespiegelt ist, heben sich beide Optionen auf. Sie sind bloß Spiegelversionen voneinander. Das Ergebnis ist eine Entscheidungsillusion. Beide Wege sind der gleiche Weg in Variation. Ein letzter Punkt, der mir gefällt, ist, dass das Bild auf den ersten Blick nicht stark bearbeitet wirkt, sondern halbwegs normal. Gleichzeitig hat man das Gefühl, etwas stimme nicht damit. Es gibt einen Knick in der Realität, etwas anderes spielt mit hinein. Diese subtile Wirkung passt meiner Meinung nach gut zu den Geschichten und zum surrealistischen Genre. Etwas stimmt nicht mit der Welt, aber was nicht stimmt, fällt erst auf, wenn man bereits hineingeraten ist.

Die enge Zusammenarbeit, die mit Freunden möglich ist, führt manchmal zu den interessantesten Entwicklungen. Ich habe am Anfang der Cover-Gestaltung meist keine konkrete Vorstellung vom Ergebnis. Ideen und Entwürfe werden zwischen Toby und mir hin und her geschickt, diskutiert und weiterentwickelt, bis der Prozess ein Ergebnis ausspuckt, mit dem wir beide zufrieden sind. Der Prozess an sich macht die Arbeit bereits bezahlt, denn es ist ungemein interessant, wie aus einer Aufgabe mit vager Vorgabe ein gemeinsames Werk entsteht. Um meine Rolle in der Entstehung nicht hochzuspielen, stelle ich hier nochmal fest, dass die gesamte Bildbearbeitung (von etwas Herumgespiele meinerseits), das Schießen der Fotos, die Feinarbeiten (Schriftarten, Schriftgröße etc.) und viele Ideen nicht von mir erledigt werden. Meine Talente liegen woanders, rede ich mir ein.

Was haltet ihr vom Cover? Wenn ihr die Geschichten bereits gelesen habt: Findet ihr das Cover passend?

Tage werden eins (Quarantäne): Ein Blogeintrag in 2 Etappen

Ein Gedicht über den Verfall und was dahinter steckt.

Tag 1:
aufstehen warten essen
hinsetzen warten essen
hinlegen
schlechte träume

Tg 3:
aufstehen warten essn
hinsetzn wart esn
hnleenschräum

…:
awehwehstrme

Paul Celan, mit dem ich mich nicht vergleichen möchte, hat einmal ein Gedicht geschrieben, das ich vergessen habe, nachdem es in der Uni behandelt worden war. Im Laufe des Textes brach das Satzgefüge weg, die Wörter lösten sich auf, alles verhallte in traurigem Kauderwelsch, das in einen Abgrund zu fallen schien. Ich fühlte mich an weit ältere Gedichte erinnert, deren äußere Form beispielsweise die eines Kreuzes war und deren Inhalt passend dazu christlich.

Zurzeit sitze ich wie viele andere allein in meiner Wohnung und sollte es doch eigentlich gewohnt sein, sitze ich doch häufig hier allein. Die Zeiten sind jedoch andere. Genau darum geht es: Zeit. Wir gliedern unsere Lebenszeit in Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden und werden immer kleiner dabei. Diese Gliederung ist künstlich und doch nicht ganz. Es gibt Helligkeit und es gibt Dunkelheit, also gibt es Tage. Es gibt Sommer und es gibt Winter, also gibt es Jahre. Aber wenn ich nicht am Donnerstag zum Laden für lokale Lebensmittel gehe, weil dann die neuen Milchprodukte geliefert werden, weiß ich nicht, dass es Donnerstag ist. Wenn niemand weiß, dass Donnerstag ist, gibt es keinen Donnerstag. Ich bin für ca. 2 Wochen versorgt, also gehe ich nicht raus.

Von anderen habe ich gehört, was mir auch passiert: Wir verlieren die Zeit, wissen nicht mehr, welchen Wochentag wir haben. Wir wissen, wann wir Hunger haben und wann wir schlafen sollten, aber die Bezeichnung von Tagen ist eine soziale Sache. Wir bezeichnen bestimmte Tage mit bestimmten Namen, um mit anderen besser kommunizieren zu können. Kommunizieren wir nicht mit anderen, bezeichnen wir keine Tage mit bestimmten Namen. Wir vergessen.

Das, was sonst Freiheit oder Ruhe sein könnte, fühlt sich an wie Gefangenschaft, wie ein Zeitbrei. Wir stehen auf, beschäftigen uns, essen, legen uns schlafen und beginnen von vorn. Alles wird eins, und über allem droht Ungewissheit, Sorge und Angst. Wir lenken uns ab und verschieben die Furcht in unsere Träume. Dort lenken wir uns nicht mehr ab, sondern sind ganz da für sie.

Ich glaube, dass es zurzeit mehr Albträume auf der Welt gibt als sonst. Das scheint mir nur natürlich in einer solchen Zeit. Unsicherheit, Sorge, Angst, auch vor der Auflösung (des Staates oder der eigenen Person, wenn die Regale leer bleiben sollten), dominieren die Tage. Darum geht es in meinem Gedicht. Das monotone Warten auf bessere Zeiten wird zu einem kindlichen Gebrabbel, das sich über Schmerz oder dunkle Träume zu beschweren scheint, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der ersten drei Zeilen und den zusammenschrumpfenden, stumm werdenden Träume(n).

16 Tage später:

Den Blogeintrag, wie er oben steht, habe ich so am 21.03.2020 verfasst und dann für eine mögliche Überarbeitung zur Seite gelegt. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt. Inzwischen haben sich viele an die neue Situation gewöhnt, glaube ich. Auch meine Ängste wurden weniger, auch wenn sie nicht verschwunden sind, und meine Sicht auf mein Gedicht ist eine andere. Was mich stört, ist die Geschwindigkeit. Ein fast vollständiger Verfall in drei kurzen Strophen wirkt wie ein Absturz und nicht wie ein Hineingleiten in die Auflösung unserer gewohnten Strukturen. Doch war es nicht genau das, was passiert war? Dass beides zugleich oder wenigstens in kurzer Folge passierte? Erst glaubten die wenigsten, dass es überhaupt eine Krise gäbe. Man machte sich lustig über Hamsterkäufe oder ärgerte sich ein wenig. Dann kam es zu mehr Käufen dieser Art, Szenen tauchten auf, in denen Leute sich um Toilettenpapier stritten, und dann kamen die Tipps, Einschränkungen und schließlich hier und da sogar Ausgangssperren. Das ging sehr schnell. Die gewohnten und unverwüstlich scheinenden (weil so gut wie nie hinterfragten) Strukturen wurden verwischt, nicht weggewischt oder zerstört, aber doch dünner. Mein Gedicht widersetzt sich meinem Gefühl für Timing, aber es scheint in die den Moment zu passen, in dem es entstanden ist.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Gedicht ein sprachliches Konstrukt ist. Die demonstrierte Auflösung ist ein geplanter und sauber exekutierter Akt, kein tatsächlicher Verfall. Auch das passt zu unserer Situation. Trotz des Anscheins von Zusammenbruch hier und dort und einem Gefühl von Orientierungsverlust gibt es weiterhin funktionierende Regeln und klare Strukturen. Menschen halten einander aufrecht und damit die wichtigsten und grundsätzlichen Strukturen der Gesellschaft: Die zwischenmenschlichen Verbindungen.

Heute finde ich mein Gedicht nicht mehr besonders schön oder gelungen, aber ich halte es für aussagekräftig im Bezug auf meine Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt und damit für die Situation anderer zu diesem Zeitpunkt. Denn so gerne ich anders bin als andere, ist es doch ein Fakt, dass meine Gefühle nicht einzigartig sind. Was ich fühle, fühlen auch andere. Das ist nicht nur der Grund, warum Kunst funktioniert, sondern auch ein Grund dafür, dass wir in Krisenzeiten zusammenrücken und nicht auseinanderfallen.

Berit Glanz: Pixeltänzer

Rezension des Romans “Pixeltänzer” von Autorin Berit Glanz.

[…] etwas zu suchen, auch wenn man nie eine Antwort erhalten wird, sagt mehr aus über die eigene Hoffnung als über den Sinn und Zweck der Suche.

Auf der Buchmesse in Frankfurt 2019 besuchte ich mit zwei befreundeten Autoren die Lesung von Berit Glanz, in der sie ihren Roman Pixeltänzer vorstellte. Ich wurde neugierig, wünschte mir das Buch zu Weihnachten und habe es Anfang Februar 2020 gelesen. Hier meine Eindrücke.

Bereits am Titel erkennt man einen gewissen Hang zu schöner Sprache. Nicht kalt beobachtend, sondern warm betrachtend und poetisch formulierend sollte sie sein. Das war mein erster Eindruck. Wie eine hauchdünne Schicht legt sich diese feine Poesie immer wieder auf den Text, ohne ihn unmodern oder überzogen wirken zu lassen. Beinahe hätte ich mir ein wenig mehr dieser schönen Formulierungen gewünscht, auch und weil sie wenig in die Welt der Start Ups, in der die Haupterzählebene der Geschichte angesiedelt ist, passen.

Die Erzählebenen fielen mir als nächstes auf. Über das Internet kommuniziert die Protagonistin mit einem ihr nur durch ein dreiminütiges Telefonat bekannten Mann, der jedoch nie direkte Antworten gibt, sondern kleine Rätsel oder Geschichten hinterlässt, und manchmal Geschichten in Geschichten. Auf der Hauptebene guckt die Protagonistin in den Quelltext ihrer Website, der verändert wurde von ihrem Gesprächspartner und in den eine Erzählung eingefügt wurde, in der es einen Rückblick gibt – eine Erzählung in einer Erzählung in einem versteckten Text in der Erzählung. Ich liebe diese Spielereien. Im Buch sind derartige Rückblicke und Einschübe nicht kompliziert oder schwer nachzuvollziehen, sondern bilden einen natürlichen Teil der Struktur.

Das dritte große Eindruckspaket stammt aus der Haupterzählebene, die, wie gesagt, in der Start Up-Szene und ihrer Modernität, ihren Ticks und Ritualen spielt. Es werden subtil Themen angeschnitten oder angedeutet, die zum Denken anregen, weil sie inzwischen Teil unseres Lebens sind und leider kaum noch hinterfragt werden, wie beispielsweise die Frage nach der Echtheit oder Überprüfbarkeit von Informationen. Wir haben schnellen Zugriff zu einer unglaublichen Masse an Informationen, aber kaum die Möglichkeit zu prüfen, ob man sich auf sie verlassen kann. Andere Beispiele für Denkanregungen sind hier und da auftretende Gegensatzpaare wie Schnelllebigkeit versus Entschleunigung, die Anonymität des Internets (beziehungsweise unserer heutigen Kommunikation allgemein) und der Sehnsucht nach Nähe, die Auflösung des Besonderen – das Internet zeigt uns, dass wir mit unseren Besonderheiten nicht allein sind, aber dadurch auch, dass wir nichts Besonderes sind. All das ist subtil eingearbeitet und taucht einfach hinter der Erzählung auf, ohne sich vorzudrängen oder besondere Aufmerksamkeit zu fordern. Angebote, die man annehmen kann, wenn man möchte, oder ignorieren, wenn man kein Interesse an der Fragestellung hat, wie so vieles heutzutage: Die Auswahl ist endlos, die Verpflichtung gleich null.

Was mir als Autor gefallen hat, ist der Umgang mit dem Problem moderner Technik. Was ich meine, ist, dass viele altbekannte Erzählstrukturen nicht mehr gut funktionieren, wenn man beispielsweise ein Smartphone einfügt. Flucht, Abgeschiedenheit, Unwissenheit, viele Horrorszenarien können durch einen Anruf, eine Nachricht oder eine Google-Suche aufgelöst werden, weswegen es plötzlich Funklöcher auftauchen, Akkus leer sind, Smartphones vergessen oder geklaut werden. Anstatt diese Probleme zu umgehen, zeigt uns Berit Glanz, wie man diese modernen Techniken in die Geschichte einbauen und sie damit bereichern kann: Kommunikation über Blogs, Quelltext, Links, Apps. So wurde aus einer möglichen Einschränkung eine große Erweiterung der Möglichkeiten.

Passend zu dieser Modernität wurde dafür gesorgt, dass alle Dinge, von denen berichtet wird, alle Google-Suchanfragen, alle Websites zugänglich oder nachvollziehbar sind. Das verankert den Roman in der Realität und die beschriebenen Gegenstände erhalten Nachprüfbarkeit. Während sich die Protagonistin fragt, welche Anteile der ihr erzählten Geschichten wahr sind, fragen sich Leser*innen des Romans dasselbe und können dem nachspüren, wie auch sie es versucht. Eine Schatzsuche auf mehreren Ebenen.

Was jetzt? Braucht jemand eine abschließende Einschätzung? Mir gefiel das Buch aus oben genannten (und weiteren) Gründen, ich habe etwas gelernt und Denkanstöße erhalten. Viel mehr gibt es nicht zu sagen.