Erschütterungen. Dann Stille.: Der Sturm im Bierglas

Über die Erzählung “Der Sturm im Bierglas” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Angeblich – laut einer Testleserin – eine meiner besten Erzählungen bisher: Der Sturm im Bierglas. Ich möchte da nicht widersprechen. Ob es die beste ist, weiß ich nicht. Das müssen andere entscheiden. Vor Spoilern im folgenden Text sei hiermit gewarnt!

Content Note: Suizid, Alkohol, Sucht

Der Wirrwarr des Todes

Mir wurde außerdem gesagt, dass man schwer nachvollziehen könne, wo und wann die Geschichte zu jedem Zeitpunkt angesiedelt ist. Sie springt vor und zurück. Das soll so sein. Sie stellt keine chronologische oder gar logische Abfolge dar. Aus meiner Sicht ist das Ende der Geschichte der Moment, in dem sie spielt, während alles Vorherige wie ein wilder Fluss im Kopf der Erzählinstanz durcheinander wirbelt. Sie ist der Fels im Fluss der Erinnerungen. Alles verwirbelt sich. Was vor 10 Jahren und was vor 30 Jahren gewesen ist, spielt keine Rolle mehr, wenn man vom Stuhl steigt.

Das Erhängen in Erschütterungen. Dann Stille. und anderswo

Dass ich morbide veranlagt bin und Suizide in meinen Geschichten nun wirklich nicht selten sind, ist inzwischen bekannt, denke ich. In Erschütterungen. Dann Stille. allerdings kommt eine Variation des Selbstmords besonders häufig vor: Das Erhängen. Ich wünschte, ich könnte beantworten, woher gerade diese Idee stammt. Es folgen einige Gedanken, woher sie stammen könnte und was an ihr besonders ist.

Sich selbst zu erhängen ist eine blutlose Selbstmordvariante. Vielleicht kommt sie daher häufiger in Filmen vor. Man kann alles zeigen und sieht dennoch nichts Verbotenes. Perverser Mist.

Spontan fallen mir zwei großartige Filme mit entsprechenden Szenen ein, die mich beide mit Tränen in den Augen zurück gelassen hatten: The Shawshank Redemption und Filth. Musikalisch denke ich zuallererst an den Song The Chair von The 69 Eyes.

Ich denke, man kann sprachlich und insgesamt literarisch gut arbeiten mit der Konstruktion einer Person, die auf einem Stuhl steht, diesen wegtritt und sich erhängt. Beispielsweise kann sehr tragisch etwas schiefgehen. Man kann ohne Strick vom Stuhl fallen, wie ich es einer Figur in einem Wettbewerbsbeitrag einmal angetan habe. Man geht einen Schritt voran, was eigentlich als etwas Positives gilt, aber in diesem Fall in den Tod führt. Das erinnert mich an den alten Witz: Früher stand ich am Abgrund, aber heute bin ich einen Schritt weiter. Doch woher genau kommt es, dass ich direkt mehrfach genau diese Art des Suizids beschreibe oder andeute? Ich wünschte, ich wüsste es.

Alkoholismus

Das alte Lied von der süchtigen Gesellschaft, vom Suff in Sorck: Ein Reiseroman und in Alte Milch: Gedichte und immer wieder die Ausrede vom Thema Macht/Ohnmacht im Werk. Welcher Aspekt bedingt hier welchen? Man kommt nicht drumherum, oder? Nicht, wenn man meine Bücher lesen möchte. Auch in Der Sturm im Bierglas dreht sich alles um den Alkohol und darum, was er ersetzen soll. Denn Sucht hat immer Gründe und diese sehen für jede*n anders aus. Sehnsucht nach einer besseren Zeit ist wohl einer der schöneren.

Das Motto

He That’s Born To Be Hanged, Need Fear No Drowning.

Dieses Sprichwort aus Elisabethanischer Zeit ist Der Sturm im Bierglas vorangestellt. In abgewandelter Form hatte William Shakespeare es in das Stück Der Sturm (The Tempest) verbaut. Nach dem Lesen musste ich eine Weile darüber nachdenken.

Es ist offensichtlich, dass das Sprichwort nicht so gemeint war, doch habe ich es in meiner Erzählung auf das Hängen durch eigene Hand bezogen und auf das Ertrinken im Sinne des Trinkens, also auf den Alkoholismus. Wer sich am Ende ohnehin erhängen wird, braucht keine Angst vor der Sucht zu haben. Ist das bereits eine selbsterfüllende Prophezeiung? Ich glaube, ich habe mich gerade einen Schritt zu weit analysiert.

Dass Der Sturm im Bierglas mit Shakespeares Stück zu tun hat, merkt man ganz am Anfang: „Am Anfang war ein Sturm“, und der Naturgeist Caliban wird erwähnt. Der Anfang der Geschichte ist also ein Hinweis auf den Anfang ihrer Inspirationsgeschichte: Am Anfang war Der Sturm.

Die Erzählinstanz

So unschön ich es finde, immer wieder „die Erzählinstanz“ zu schreiben, statt „der Erzähler“, mag ich doch den Gedanken, dass ich ebendiese Instanz weder in dieser Erzählung selbst noch im dazugehörigen Blogeintrag gendere. Manche Erzählungen haben Protagonist*innen oder Erzählinstanzen mit klarem oder angedeuteten Geschlecht, aber Der Sturm im Bierglas und viele andere in Erschütterungen. Dann Stille. haben eine neutrale Instanz, die von jede*m gelesen werden kann, wie es gerade am angenehmsten ist.

Dass es nicht immer wichtig ist, was die Autor*innen sagen wollen, sondern was die Leser*innen aus der Geschichte ziehen können, habe ich mehrmals betont. Das darf keine Ausrede für völlig unangebrachte Sauereien seitens der Autor*innen sein, aber im Rahmen guter Erzählkunst halte ich es so. Teil davon kann sein, dass das Geschlecht der Erzählinstanz, besonders bei Ich-Erzähler*innen, offen bleibt. Ich habe mich sehr gefreut, als meine Testleser*innen bei manchen Geschichten die Erzählinstanz unterschiedlich gelesen haben, weil es jeweils am besten für ihre Lesesituation passte. Auf diese Weise schließt man niemanden aus. Mich selbst kostet es im Normalfall gar nichts. Schöne Sache, oder?

Erschütterungen. Dann Stille.: Am Fluss

Über die Kurzgeschichte “Am Fluss” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Erschütterungen. Dann Stille. ist seit 15.11.2020 veröffentlicht. 2020 hatte meine Pläne massiv durcheinander gewirbelt, aber immerhin diese Veröffentlichung konnte ich noch raushauen, bevor das Horrorjahr endete.

Dieser Blogeintrag ist der erste einer ganzen Reihe zum neuen Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Es wird zu jeder Geschichte einen Blogeintrag geben (und später vielleicht noch weitere zu bestimmten Details oder Aspekten). In einigen Blogeinträgen wird es Content Notes geben, wenn die Themen schwieriger sind. Ich folge der Reihenfolge der Geschichten im Buch, damit alle Leser*innen möglichst viel Zeit haben, um aufzuholen. Wir fangen also an mit Am Fluss, der ersten Story im Buch.

Content Notes: Tod, Trauma

Am Fluss

Am Fluss im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille. gehört zu den ganz wenigen Geschichten, die ich spontan und ohne Planung verfasst habe. Auf diese Weise schreibe ich extrem selten. Sie ist an einem Tag entstanden, an dem ich nicht wusste, woran ich arbeiten sollte, oder nicht an dem arbeiten wollte, woran ich sonst hätte arbeiten können. Textdokument auf und losgetippt. Im Folgenden erzähle ich von der Erzählung. Wer sie noch nicht gelesen hat, sei hiermit vor Spoilern gewarnt!

Das Ding mit den Katzen

Wie bin ich da bloß drauf gekommen? Ich weiß es nicht mehr. Ich mag Katzen und Katzen mögen mich. Aber es gibt viele Menschen, die Katzen mögen, und deshalb gibt es potenziell viele Leser*innen, die sich von einer Katzengeschichte gefangen nehmen lassen. Vielleicht war das ein Teil der Idee.

Eine Assoziation, die in Am Fluss auch kurz erwähnt wird, ist die mit alten Zeichentrickfilmen. Als Kind habe ich noch regelmäßig Tom & Jerry geschaut. Mehr als einmal gibt es darin Szenen, in denen Säcke mit Kätzchen in den Fluss geworfen werden. Manchmal überleben sie. Aber ich erinnere mich auch an eine Szene, in der die durchnässten Kätzchen am Himmelstor stehen und begrüßt werden. Natürlich wird es nicht gezeigt, aber es wird angedeutet, dass sie ersäuft worden sind. Die Vorstellung fand ich immer abstoßend und vielleicht spürt man das beim Lesen auch.

Kruppkes matschiges Gemüt

Mit der Figur Kruppke wollte ich es mal mit einem gröberen, aber dennoch freundlichen Charakter versuchen. Ich habe viele solcher Menschen kennengelernt. Nette Leute, aber mit einem Hang zur Gewalt, die außerdem relativ leicht manipulierbar sind. Man redet ihnen etwas ein und sie glauben, sie träfen eigenständige Entscheidungen. Der Erzähler kennt Kruppke schon seit der Kindheit und weiß um seine Manipulierbarkeit. Man könnte meinen, dass er Kruppke deshalb auf die Frau hetzen, ihn zum Täter machen würde. Aber die Gewalt geht niemals von Kruppke aus, sondern zuerst von der Frau (den Katzen gegenüber) und dann vom Erzähler der Frau gegenüber. Liegt es daran, dass der Erzähler seinen alten Kumpel nicht mit hineinziehen wollte in die Angelegenheit? Ich denke nicht. Der Erzähler hat einige fiese Züge, die in einem derart kurzen Text natürlich nur angedeutet werden konnten, beispielsweise in seinem Wissen, dass Kruppke manipulierbar und dass er zur Gewalt fähig ist. Man kann schließen, dass er dieses Wissen schon getestet hat.

Der Erzähler hat schlicht die Kontrolle über sich verloren auf der Brücke. Oder? Nicht ganz. Was er tut, ist ein aus Wut entstandener, aber sehr kontrollierter Akt: er nähert sich, spricht mit der Frau und setzt den Einfall mit dem Anorak um. Er hätte auch einfach zuschlagen können.

Wiederkehrendes Trauma / repetitive Hölle

Das Prinzip eines Kreislaufs oder vielmehr einer Spirale innerhalb von Geschichten gefällt mir. Filme wie Predestination faszinieren mich. Was ich meine, sind Geschichten, deren Ende am Anfang anknüpft, einen Kreislauf bilden, oder deren Ende sogar den Anfang bedingt. Das letzte Bild von Am Fluss ist das Bild aus der Kindheitserinnerung des Erzählers, die seine Gefühle und seine Tat vorherbestimmt haben. Es handelt sich um ein anderes Kind, aber man kann schließen, dass es sich um einen Kreislauf (oder eher eine Spirale) handelt und sich das Trauma und die Rache bis in alle Zeit wiederholen wird. Das wird noch gestützt dadurch, dass der Erzähler selbst das Kind hört. Vielleicht hat es in seiner Kindheit ebenfalls einen Zuhörer gegeben. Er muss keineswegs der Start der Spirale sein. Kann man die Spirale durchbrechen? An Opfer (dem Kind) ist es nicht gelegen, dass es später zum Täter wird, sondern an Täter*in Nr. 1 (der Frau auf der Brücke). Das Problem einer solchen Spirale ist, dass sie nur von außen durchbrochen werden kann.

Stilfragen

Spricht der Erzähler mit Kruppke, klingt er ganz anders, als wenn er der/dem Leser*in erzählt. Allgemein klingt die Sprache, finde ich, alltagsnäher in dieser Geschichte als in vielen anderen. Am Fluss ist sprachlich kein fein gedrechseltes Himmelbett, sondern ein Ikea-Bettgestell mit günstiger Matratze. Man liegt bequem und es passt zu den restlichen Verhältnissen.

Geschuldet ist der Sprachstil einerseits der spontanen Entstehung der Rohfassung und andererseits der Tatsache, dass der Erzähler ein (vom Trauma abgesehen) ganz normaler Typ sein sollte. Er ist zwar clever, aber nicht besonders intelligent, sonst hätte er bessere Lösungen gefunden als einen möglichen Mordversuch (und hätte wohl auch seinem Kumpel nicht erzählt, dass er vor Ort gewesen ist).

Dass ich keine Sorck’schen Monsterformulierungen mehr schaffen will in nächster Zeit, habe ich bereits mehrmals an verschiedenen Stellen erwähnt. Es passt nicht mehr zu meiner Ansicht über gute Literatur oder zu der Person, die ich inzwischen geworden bin. Manche Geschichten sind komplexer (formuliert) und andere simpler. Ich muss nicht tagelang Fremdwörterbücher durchforsten, um gute Geschichten zu schreiben. Ich schreibe sie mit dem passendsten Vokabular, nicht mit dem verdrehtesten – doch wenn beides zusammenfällt, dann ist das eben so.

Jahresrückblick 2020: Mein literarisches Jahr

Literarischer Jahresrückblick 2020: Veröffentlichungen, Zeitungsartikel, Blogeinträge, Interviews, Podcasts …

Zum Abschluss der dreiteiligen Reihe zum Jahresrückblick auf das turbulente Jahr 2020 schreibe ich über das Schreiben, besser: über das Geschriebene, über Veröffentlichungen, Projekte, Erfolge und Rückschläge. Einmal im Jahr darf man sich selbst feiern und das werde ich hier an manchen Stellen auch tun – aber nicht überall. Schauen wir mal.

Das Chaos, die Seuche und ihre Auswirkungen

Kaum jemand wird damit gerechnet haben, dass das Jahr 2020 einen derartigen Überfluss an Bullshit über Menschheit und Erde auskippen würde. Ich werde jetzt nicht anfangen über Politik und Verhalten der Menschen zu schimpfen, sondern erwähne lediglich, dass mich (hauptsächlich) die Pandemie stark beeinflusst hat. Zu diesen negativen Einflüssen gehört, dass ich mehr Zeit für alles brauchte, zeitweise kaum zu arbeiten vermochte und sich entsprechend meine Pläne nicht einhalten ließen. Im Lichte der Gegebenheiten kann ich dennoch stolz sein auf meinen Output, auf alle Veröffentlichungen, Buchgeburtstage und Kooperationen, die 2020 zustande gekommen sind. Schieben wir einfach mal den ganzen Dreck beiseite und feiern mich, okay? Ich brauche das zum Jahresabschluss.

Die Jährung der ersten Bücher

Im Mai 2020 jährte sich die Veröffentlichung meiner allerersten Veröffentlichung. Mein erster Roman Sorck feierte Buchgeburtstag. Dank einer Preis- und Werbeaktion konnte ich noch einige neue Leser*innen hinzugewinnen. Ansonsten, muss ich leider zugeben, scheint die Zeit meines skurrilen Romans vorerst vorbei zu sein, jedenfalls was Verkäufe angeht. Als Selfpublisher*in kann man ohnehin nicht mit großen Erfolgen rechnen, schon gar nicht außerhalb der gängigen SP-Genres. Schade ist es dennoch. Vielleicht sollte ich mich mehr auf Marketing konzentrieren. Es hat allerdings auch im Jahre 2020 eine Rezension gegeben auf dem Reisswolfblog.

Auch der Gedichtband Alte Milch hat 2020 Geburtstag gefeiert, wurde allerdings nicht nur von der Welt, sondern sogar von mir vergessen. Peinlich. Im Unterschied zu Sorck ist für Alte Milch die Zeit nicht wirklich abgelaufen, weil es nie eine Zeit hatte. Es wartet geduldig auf Zeiten, in denen wieder Lyrik gelesen wird. Ich bin dennoch stolz auf beide Bücher. Sie sind ein Teil von mir und werden es immer bleiben. Für einige Leser*innen bedeuten die Bücher viel. Das weiß ich. Das freut mich immer wieder. Wenn sich gelegentlich noch neue Leser*innen für die beiden finden sollten, werde ich mich freuen.

Neue Bücher

Im März habe ich mich zurückgemeldet mit einer kleineren Veröffentlichung: Das Maurerdekolleté des Lebens. Diese drei zusammenhängenden Erzählungen, die in der limitierten Printversion 54 Buchseiten einnahmen, sollten einerseits aufgrund einer angestrebten Regelmäßigkeit, was Neuerscheinungen angeht, alleinstehend herausgebracht werden. Andererseits wollte ich Leser*innen die Chance bieten, für sehr wenig Geld über Leseproben hinaus in meine Werke zu schauen. Rein pragmatisch könnte ich auch noch anführen, dass diese drei Geschichten mit ihrer Länge in einem Sammelband einen großen Anteil eingenommen und deshalb nicht recht reingepasst hätten. Rezensionen hat es gegeben beim Reisswolfblog sowie auf KeJas Wortrausch.

Dieser Sammelband ist dann mit Erschütterungen. Dann Stille. im November erschienen. Eine Weile war angedacht, die Erzählungen aus Das Maurerdekolleté des Lebens doch noch einzufügen und die vorherige Veröffentlichung als eine Art Single-Auskopplung zu betrachten. Allerdings konnte ich 29 Geschichten auf meinem PC finden, die innerhalb der letzten zwei Jahre entstanden sind und mir noch immer gefallen. 29 sind genug. Sonst hätte ich eher noch eine der weiteren 10-30 Erzählungen hinzugefügt, die ich zuvor aussortiert hatte. Auch auf Erschütterungen. Dann Stille. und auf Das Maurerdekolleté des Lebens bin ich ausgesprochen stolz. Ich finde, sie zeigen, dass ich vielseitig schreiben kann, permanent arbeite, permanent liefere und niemals uninteressant werde dabei.

Eine Konsequenz der beiden neuen Veröffentlichungen ist natürlich, dass ich mir 2021 vier Buchgeburtstage zu merken habe.

Zeitungsberichte, Interviews und Gespräche

Genau wie für Sorck und Alte Milch hat es auch zu Erschütterungen. Dann Stille. einen Zeitungsartikel der Ruhr Nachrichten gegeben, und wie immer einen Blogartikel dazu. Die Rückmeldung Bekannter und Verwandter sowie indirekt Bekannter und Verwandter von Bekannten und Verwandten hat mir Kraft gegeben und mich aufgebaut. Im Blogartikel habe ich erwähnt, dass dieser Effekt Teil meiner Idee dahinter gewesen ist. Man muss sich selbst Siege verschaffen, sofern es möglich ist. Dieses Jahr brauche ich Siege.

2019 hatte es bereits Interviews gegeben, in denen ich die Fragen von Blogger*innen beantwortet habe. 2020 sind weitere hinzugekommen. Nachzulesen sind die Interviews auf JenLovesToRead und Das Bambusblatt. Ich freue mich immer, wenn ich bei solchen Aktionen mitmachen darf. Welche*r Autor*in spricht nicht gerne über die eigenen Werke und den Schreibprozess? Unter ein bisschen Selbstverliebtheit leiden wir doch alle.

Wer lieber meine Stimme hören möchte, anstatt lediglich meine Antworten zu lesen, kann entweder die Tracks im Blogartikel Ton und Entfaltung: Lyrikfetzen anhören oder einen der mehreren Podcasts anschalten, bei denen ich dieses Jahr zu Gast sein durfte. Auf Kia Kawahas Patreon-Seite habe ich an den Podcasts Bücher und Leseempfehlungen und Unser Schreibprozess mitgewirkt. Das hat mir bereits Spaß gemacht. Noch mehr Spaß hatte ich allerdings beim Podcast von S.D. Foik und seinem Podcast Buch und Bühne. Unsere gemeinsame Folge hieß Der Krieg des Autors mit der leeren Seite und drehte sich zu meiner großen Freude zu einem erheblichen Teil um Musik.

Neue Netzwerke und eine Überraschung

Networking ist keine Spezialität von mir. Ich unterhalte mich einfach gerne mit anderen Autor*innen, Blogger*innen und Kreativen. Gezielt entwickelt sich da gar nichts, aber manchmal entstehen Projekte oder Kooperationen (wie die erwähnten Podcasts). 2020 hat direkt zwei größere Vernetzungspunkte gebracht. Lange musste ich geheim halten, dass ich eingeladen worden bin, für Nikas Erben zu schreiben. Dieses Autor*innenkollektiv veröffentlicht regelmäßig hochwertige Anthologien und ich wollte schon lange Teil des Teams werden, hatte aber nie angefragt. Nun bin ich dabei. In der nächsten Anthologie werden direkt zwei meiner Erzählungen, eine sehr kurze, eine etwas längere, erscheinen. Sie sind gewohnt düster und seltsam, aber in einem Fall horrorlastig und im anderen so etwas wie Fantasy mit Gesellschaftskritik und einem Moraldilemma vermischt.

Eine Weile später hat man mir die Freude gemacht, mich zu fragen, ob ich beim Buchensemble mitmischen wollte. Natürlich wollte ich! Das Buchensemble besteht aus Rezensent*innen, die allesamt auch Autor*innen sind. Wir lesen und rezensieren Bücher verschiedenster Art. Bisher sind folgende Rezensionen von mir veröffentlicht worden:

Außerdem werden immer mal wieder Themenartikel geschrieben. Von diesen durfte ich auch bereits einen schreiben mit Lesen und gelesen werden: Was macht das mit uns? Zu den im Themenartikel entwickelten Gedanken habe ich noch zusätzlich einen Blogartikel verfasst: Inspiration und Hommagen. Man könnte nun meinen, dass es für mich keinen großen Unterschied machen sollte, ob ich hier auf Papierkrieg.Blog Rezensionen veröffentliche oder mit mehr Reichweite beim Buchensemble, aber für mich ist der Unterschied enorm. Man schenkt mir Anerkennung und Reichweite, weil man meine Meinung für interessant und relevant genug hält, um auf einer fremden Plattform zu veröffentlichen.

Wie wichtig das Ego ist bei Autor*innen, die sich zu schnell dem Imposter Syndrom gegenüber sehen, sieht man spätestens daran, dass ich die Veröffentlichung beim Literaturmagazin Syltse im Titel als Überraschung bezeichnet habe. Bei einer Ausschreibung mitzumachen, bringt nunmal die Möglichkeit mit sich, dass man veröffentlicht wird. Es gibt Texte, auf die man besonders stolz ist, und dazu zählt für mich Ich rezensiere mich, den Text in der Winterausgabe des Syltse-Magazins.

Papierkrieg.Blog

Für Personen wie mich, die schon am Alltag zu kauen haben, wie aber auch für alle anderen Menschen, ist es neben all den bereits erwähnten Punkten allein schon eine Leistung, einen Blog zu betreiben und 2020 mindestens einen Blogeintrag pro Woche abzuliefern, der jeweils durchdacht, recherchiert und überarbeitet worden ist. Auch darauf bin ich stolz.

Es schmälert meinen Stolz keinesfalls, dass der am häufigsten geklickte und gelesene Blogeintrag dieses Jahr ein Gastbeitrag von June T. Michael gewesen ist: BDSM als Utopie. Gerne kooperiere ich mit den Betreiber*innen anderer Plattformen und arbeite genau so gerne mit Personen zusammen, die bei mir veröffentlichen wollen. Gerade dieser Beitrag ist sehr lesenswert, doch auch der Blogartikel All der Horror! Was stimmt denn nicht mit dir? von Michael Leuchtenberger ist spannend für alle Fans seiner Werke und Horrorfans allgemein. Wer in Zukunft gerne auf Papierkrieg.Blog veröffentlichen möchte, darf mich gerne kontaktieren über M.Thurau[at]Papierkrieg.Blog oder über Twitter (sollte schneller gehen).

Unter den beliebtesten Blogeinträgen 2020 befinden sich außerdem:

Was noch?

Die neu gegründete Plattform Indie-Buecher.com sorgt für mehr Reichweite für Selfpublisher*innen und bewirbt exklusiv Indie-Autor*innen. Ein derartiges Projekt musste ich selbstredend unterstützen. Man findet mich und meine Werbe dort ebenfalls repräsentiert, z.B. hier: Matthias Thurau: Erschütterungen. Dann Stille.. Wer mich direkt unterstützen möchte und entweder bereits all meine Bücher besitzt oder einfach nur jemandem etwas Gutes tun will, kann mich direkt über meine Seite auf Ko-Fi.com unterstützen. Kleinste Spenden werden bereits dankbar entgegengenommen, nicht nur weil ich stets knapp bei Kasse bin, sondern auch als Geste der Wertschätzung, die ich (und andere) schlicht und ergreifend benötigen, um die Energie aufzubringen, um weiterzumachen.

Die Zukunft

Neben der Fortführung der laufenden Projekte (Blog, Buchensemble, Nikas Erben) werde ich mich auf mein Romanprojekt stürzen. Ursprünglich ist der Plan gewesen, es 2020 fertigzustellen und an Verlage/Agenturen zu verschicken. Stattdessen ist all das oben Erwähnte geschehen, was auch cool ist. Da ich bereits sämtliche bisher geplanten Blogeinträge bis Mitte April fertiggestellt habe, ist genügend Zeit für eine ordentliche Überarbeitungsrunde vorhanden. Auf dem Blog wird es zu jeder einzelnen Erzählung in Erschütterungen. Dann Stille. einen eigenen Blogeintrag geben. Veröffentlicht werden diese Texte dann jeweils samstags und mittwochs. Eventuell werden noch weitere, bisher nicht geplante Artikel hinzukommen. Wir werden sehen. Das große Projekt 2021 ist allerdings der zweite Roman. Die Rohfassung steht längst, aber es muss noch einiges daran getan werden. Packen wir’s an (oder so)!

Figurennamen suchen und finden

Über das Suchen und Finden passender Figurennamen.

In diesem Blogeintrag werde ich mich mit Namen in der Literatur beschäftigen. Es wird um die Suche nach ihnen und die Gründe für ihre Verwendung in eigenen und fremden Werken gehen. Ich fange an mit meiner üblichen Vorgehensweise auf der Suche nach Figurennamen und bespreche anschließend einige Beispiele aus bekannten Büchern und meinen bisherigen Veröffentlichungen.

Nomen Est Omen

Namen und ihre Träger*innen gehen eine sonderbare Symbiose ein. Immer scheinen sie zueinander zu passen. Die Person scheint bereits früh zu einem Horst, einer Claudia, einem Matthias oder einer Anna zu werden. Gleichzeitig assoziieren die Menschen in der Umwelt der Person fortan den gegebenen Namen mit der Person, vergleichen also neue Horsts, Claudias usw. mit dieser. Die Namensträger*innen verändern sich und verändern die von ihren Namen ausgelösten Assoziationen, aber Erwartungshaltungen der Umwelt bleiben grundsätzlich bestehen, auch wenn diese sich ebenfalls wandeln.

Als ich ein jüngerer Mensch war, konnte man die Namen Kevin oder Marvin fast als Beleidigung verwenden und alle Kevins/Marvins, die man kennenlernte, schienen die Vorurteile zu bestätigen. Heutzutage sind diese Namen gängiger und weit weniger belastet. Die Kevins und Marvins der Welt haben gute PR-Arbeit geleistet. Vermutlich sind es die gleichen Kevins und Marvins, die man früher für etwas langsam gehalten hat, weil sie eben Kevin und Marvin hießen, die heute nicht weniger intelligent wirken als jeder dahergelaufene Cornelius. Diese Verknüpfungen zwischen Namen und angeblicher Bedeutung dieser Namen, Rückschlüsse, die man automatisch zieht, Vorurteile usw. sollte man mitdenken, wenn man Figuren benennt – und vielleicht auch bei, wenn man Kinder benennt, denn es diese Assoziationen haben reale Konsequenzen, beispielsweise werden Kinder mit Namen, die man mit bildungsfernen Milieus gleichsetzt, häufig schlechter benotet für die selbe Leistung als Kinder mit anderen Namen.

Namen müssen (zu) ihren Figuren passen

Bevor ich einen Namen für eine Figur suche, muss ich mehr über die Figur wissen. Alter, Geschlecht (hier geht natürlich auch die bewusste Entscheidung für einen Namen, der keine direkten Schlüsse zulässt), Bildung usw. Hier muss man sich mit Vorurteilen abfinden, weil man mit Assoziationen arbeitet. Die meisten Leser*innen werden eine Cindi für weniger gebildet halten als eine Angelika – das angesprochene Kevin-Marvin-Cornelius-Problem. Natürlich kann man genau mit diesem Widerspruch spielen, aber auch dafür muss man sich zuvor entscheiden. Ähnliches gilt für das Alter einer Figur. Ein Helmut wirkt eindeutig älter als ein Finn. Haben wir mindestens diese Infos zur Figur zusammen, können wir weitergehen. (Gehen wir zunächst davon aus, dass wir keine tiefere Bedeutung in den Namen stecken. Beispiele dafür kommen aber später noch.)

Namenssuche

Die einfachste Variante der Namenssuche/-entscheidung ist eine spontane Assoziation. Manchmal steht der Name einfach plötzlich da. Und fertig. Wenn er passt, passt er.

Ich brauche meist ein wenig Zeit und mehrere Optionen. Haben wir Alter, Geschlecht und Wirkung geklärt, können wir suchen. Google hilft. „Jahrgang + beliebte Vornamen“ eingeben und man findet etliche Seiten mit den X beliebtesten Vornamen des angegebenen Jahrgangs, aufgeteilt nach männlich und weiblich. Es kommt selten vor, dass ich unter den Top 10 Namen keinen (zu allen Maßgaben) passenden finde. Am wichtigsten ist immer die richtige Assoziation: Hat der Name allein bereits eine Wirkung, die der Figur Leben einhaucht? Wen stellt ihr euch vor, wenn ihr von Rainer, Max, Ilse oder Nici hört? Oder wären Drago, Waldemar, Nicolette, Arian besser?

Natürlich kommt es auch auf euer Genre an. Dass meine Suche nicht gut für Fantasy- und Sci-Fi-Namen funktioniert, ist auch klar, oder man müsste die gefundenen Namen abwandeln und ans Genre anpassen. Das könnte gehen.

Namen mit Konzept

Es gibt viele Gründe, um Figuren Namen zu geben, die eigene Inhalte vermitteln, einem Programm folgen oder nach realen Personen oder literarischen Figuren klingen. Im Blogeintrag über Hommagen beziehungsweise im vorangegangen Themenartikel fürs Buchensemble hatte ich bereits den Bibliothekar Jorge in Der Name der Rose von Umberto Eco erwähnt, der eine Hommage an den Autor Jorge Luis Borges darstellt und daher Jorge heißt. Es steckt also ein Konzept hinter der Benennung der Figur (und vielen weiteren ihrer Eigenschaften). Franz Kafka, der viele seiner Figuren lediglich „K.“ nannte, folgte damit auch einem Konzept, einem kaum versteckten Selbstbezug. Als ich wiederum eine Figur in Das Maurerdekolleté des Lebens „K.“ genannt habe, bezog ich mich damit auf Kafka und seine Figurenbenennung.

Neben derartigen und ähnlichen Bezügen zwischen Namen gibt es natürlich noch die jene Figurennamen, die versteckte Bedeutungen haben und nicht Namen um des Namens Willen sind. Im Folgenden gehe ich auf einige Figurennamen aus meinen Werken ein. Gelegentlich wird gespoilert, aber das versuche ich in ertragbaren Grenzen zu halten.

Namen in Sorck

Beginnen wir im Zentrum. Martin Sorck, Protagonist meines ersten Romans Sorck, trägt seinen Namen nicht ohne Grund, wenn auch kein besonders ausgeklügeltes System dahintersteckt. Martin heißt er aufgrund der relativen Ähnlichkeit zu meinem eigenen Vornamen. Mein erstes Buch, meine erste Veröffentlichung, ein großes Ziel, auf das ich lange hingearbeitet habe. Natürlich musste dieser für mich monumentale Schritt eine klare Beziehung zu mir aufweisen. Mögliche weitere Parallelen zwischen mir und der Figur Martin Sorck verschweige ich an dieser Stelle. Sein Nachname kommt übrigens vom Sorck- oder Sorkc-Modell, das in der Verhaltenstherapie eingesetzt wird. Martins Geschichte ist eine Art Therapie für ihn, eine Sinnsuche und ein Kampf mit sich selbst. Außerdem klingt Sorck ein wenig nach „Sorge“, was der durchaus passende Ton für dieses Buch ist.

Auf Eva bin ich in einem eigenen Blogartikel eingegangen: Sorck: Eva. Auch auf die Frau Major, ihren Titel und Namen habe ich einen kompletten Artikel verwendet: Sorck: Frau Major. Eine wichtige Figur, die, sofern mich mein Gedächtnis nicht täuscht, noch so gut wie gar nicht aufgetaucht ist in meinen Blogtexten, ist Moses Arsonovicz. Es stand früh fest, dass diese Figur in die Geschichte gehört. Kurz darauf habe ich bei einer Autofahrt aus dem Fenster gesehen und eine etwas andere Schreibweise des Nachnamens gelesen. Dabei hatte ich sofort eine Assoziation: Arson-ovicz → Arson (engl.) = Brandstiftung. Feuer spielt eine wichtige Rolle in Sorck, daher passte der Name hervorragend. Da außerdem viele Namen und Vergleiche im Buch aus der Mythologie oder der Religion stammen und Moses Arsonovicz eine Art Spiegelfigur für Martin Sorck ist, so wie Moses in der Bibel für Jesus Christus (Vorwegnahme des Neuen Testaments im Alten Testament usw.), schien es mir nur logisch, dass ich Herrn Arsonovicz den Vornamen Moses geben würde. Damit stand auch nichts mehr der etwas irrsinnigen Buffet-Szene im Wege, in der Moses sich einen Weg durch das Meer hungriger Gäste bahnt wie, na ja, Moses durch das Rote Meer eben.

Namen in Das Maurerdekolleté des Lebens

Neben dem bereits oben erwähnten K. gibt es in Das Maurerdekolleté des Lebens nur einen weiteren Namen: Theo. „Theos“ im Griechischen bedeutet „Gott“. Es gibt zwei Gründe oder Varianten, warum ich Theo ausgerechnet Theo genannt habe. Die interessantere Variante lautet, dass Theo den gleichen Tag in mehreren Versionen durchlebt, verschiedene Möglichkeiten austestet, auch wenn er sich nicht daran erinnern kann, und dieses Privileg Menschen üblicherweise, soweit wir wissen, nicht gegeben ist. Gott wiederum, sofern man der christlichen Mythologie glaubt, kann und weiß alles, also auch dieses. Es gibt natürlich eine Ausnahme unter den Menschen: Autor*innen. Alle Literatur ist eine unendliche Studie in Möglichkeiten. Nicht umsonst sind wir Schöpfer*innen neuer, anderer, besserer und schlimmerer Welten. Damit wäre Theos Reise durch die Möglichkeiten eines Tages so etwas wie ein Symbol für das literarische Denken. Die Frage „Was wäre wenn?“ in Ausschnitten beantwortet, verdreht und in einem Namen verkörpert.

Die stupidere Variante lautet, dass ich, als ich mein Abitur im Abendgymnasium nachholte, einer Sitznachbarin erklärte, was das „Theo“ in „Theologie“ bedeutete, und sie mich fortan, weil ich ihrer Meinung nach alles wüsste, durchaus als Kompliment gemeint, gelegentlich Theo nannte. Damit hätte ich mich wiederum unaufdringlich selbst eingebracht (wie bereits beim vorher erwähnten Martin).

Namen in Erschütterungen. Dann Stille.

Es wird kaum verwundern, dass ich es auch in Erschütterungen. Dann Stille. nicht lassen konnte, mich selbst oder meinen Namen zu verbauen. In der Erzählung Der Spinner spiele ich neben anderen Dingen mit der Idee von Identität und mit der Kommunikation zwischen Autor*in und Figur – zusammengeknotet durch Surrealismus und ein wenig Multiversumstheorie. Um das Chaos zu komplettieren oder wenigstens das Identitätsspiel auf die Spitze zu treiben, habe ich den Protagonisten der Rahmenebene Matthias genannt. Er wiederum nennt Figuren, die er schreibt Mathias, Mateusz usw., nutzt also andere Schreibweisen oder anderssprachige Versionen des gleichen Namens. Details dazu wird es im passenden Blogeintrag im Januar geben. Zu jeder einzelnen Geschichte aus Erschütterungen. Dann Stille. wird es einen Artikel geben, weshalb ich hier nur anreiße, dass es im Buch Namensbezüge zu Robinson Crusoe, Caspar David Friedrich, Hannah Arendt und weiteren Personen oder Dingen gibt. Schaut mal rein, damit ich die ganze Denkarbeit nicht umsonst gemacht habe!

Fazit oder so

Irgendwo bei Jorge Luis Borges habe ich von der Macht der Namen gelesen. Davon, dass, als der Teufel aus dem Himmel verbannt worden ist, er einen Teil seines Namens und damit einen Teil seiner Macht einzubüßen hatte. Davon, dass derjenige Macht über den Golem hatte, der ihm einen Namen in die Stirn ritzte oder ihn wegwischte. Davon, dass der Name Gottes den Wissenden Macht bringe. Von der doppelten Namensgebung der alten Ägypter: einen öffentlichen und einen geheimen Namen. Wäre mein Gedächtnis ein besseres, hättet ihr den Vorteil einer Zusammenfassung. So verweise ich euch auf Borges’ Essays. Lest sie einfach alle, dann macht ihr nichts falsch!

Wie man als Autor*in in die Zeitung kommt

Wie man als Selfpublisher*in in die Zeitung kommt und wie ein Pressetermin abläuft.

Am 07.12.2020 ist auf der Seite der Ruhr Nachrichten ein Artikel über mein neuestes Buch Erschütterungen. Dann Stille. erschienen. Bereits am folgenden Tag wurde der Artikel mit der Printausgabe verteilt. Aufgrund von Kooperationen war der Bericht nicht nur in dieser Zeitung, sondern auch beispielsweise in der Westfälischen Rundschau zu lesen. Bevor ich erkläre, wie es dazu gekommen ist, welche Informationen für die Zeitung interessant sind, wie das Gespräch abgelaufen ist und welche Konsequenzen der Artikel für mich hatte, poste ich den Link zur Online-Ausgabe. Leider versteckt er sich hinter einer Paywall:

Erschütterungen. Dann Stille: Hombrucher veröffentlicht ersten Erzählband

Vorgeschichte

Der Artikel ist bereits der dritte über mich und meine Bücher in der Ruhr Nachrichten. Bereits beim ersten Bericht, der sich mit dem Roman Sorck beschäftigte, hatte ich einen Blogartikel verfasst. Auch beim zweiten Zeitungsartikel, der sich um Alte Milch drehte, folgte ein Blogartikel. Diese Information ist vielleicht ganz interessant, wenn es darum geht, wie einfach es diesmal trotz minimaler Komplikationen wieder gewesen ist, einen Platz in der Zeitung zu ergattern.

Der Kontakt

Für den ersten Artikel hatte ich sämtliche in der Gegend aktiven Zeitungen kontaktiert, ähnlich wie man es mit passenden Buchblogs macht, um rezensiert zu werden. Leider hatte nur die Ruhr Nachrichten geantwortet. Als es diesmal darum ging, Erschütterungen. Dann Stille. außerhalb meiner Reichweite auf Twitter und dem Bekanntenkreis zu vermarkten, habe ich gar nicht erst überall nachgefragt, sondern mich nur bei meinem Kontakt für die ersten beiden Artikel gemeldet.

Journalist*innen sind auch nur Menschen. Außerdem sind sie schreibende Menschen. Damit sind sie uns literarischen Autor*innen nicht unähnlich. Entsprechend sind wir (der Journalist Marc D. Wernicke und ich) damals recht schnell zum Du übergegangen und konnten uns nach dem ersten professionellen Gespräch auch über andere Dinge unterhalten. Man könnte das Networking nennen, aber ich glaube, wir beide haben uns einfach als Menschen verstanden, und das ist immer die beste Basis. „Leider“ (das heißt, er hat gute Gründe und ist glücklich) ist Marc aus Deutschland weggezogen. Dennoch stellte er nach meiner Information, dass ein neues Buch veröffentlicht worden ist, sofort den Kontakt zur Journalistin Alexandra Wachelau her, die sich wiederum noch am gleichen Tag meldete. Damit war der Anfang längst gemacht.

Ablauf

Ich bin ein nervöser Mensch. Neben anderen Gründen schreibe ich diesen Artikel, weil ich genau weiß, dass es mir ungemein hilft, wenn ich im Vorfeld weiß, wie Dinge genau ablaufen. Das nimmt einen Teil der Unsicherheit aus dem Spiel. Für alle, denen es genau so geht, ist dieser Abschnitt des Blogeintrags. Wie es damals ablief und wie nervös ich da war, kann man am besten im Artikel über Sorck nachlesen: Sorck: Ein Zeitungsartikel. In Zeiten der Pandemie ist der Ablauf wie alles andere etwas anders.

Der Kontakt war hergestellt. Nun folgten zunächst E-Mails. Es mussten die Grundlagen geklärt werden. Während der Pandemie wollen auch Journalist*innen nicht ihr Leben riskieren, um Content liefern zu können. Absolut verständlich. Daher wurde von einem Treffen abgesehen und ein Telefonat vereinbart. Ich hasse Telefonate mit Fremden, aber ich finde den Gedanken schlimmer, dass mein Buch nicht verkauft und gelesen wird. Da es sich tatsächlich nicht gut verkauft, leide ich hier doppelt. Danke für Nichts, 2020. Weiter im Text.

Da ich keine große Reichweite habe, waren weder mein Name noch meine Arbeit bei der Journalistin bekannt. Nachvollziehbar. Aber da niemand gern unvorbereitet in Gespräche startet, hatte ich mehrere Blogartikel in den E-Mails verlinkt – generelle Infos zum Buch, Leseproben – und habe mich bereit erklärt, weitere Infos nachzuliefern, falls Interesse bestünde. Auch habe ich ein Autorenfoto mitgeschickt, da auch Fotograf*innen ihre Gesundheit nicht für ein Bild riskieren möchten, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Zum Foto kommen wir nachher.

Welche Infos interessiert die Presse?

Die Frage ist im Grunde leicht zu beantworten: Alles, was ein Buch außergewöhnlich macht, ist interessant. Alleinstellungsmerkmale – ob nun Alleinstellungsmerkmale des Buches oder des/der Autors/Autorin, ist egal – sind interessant. Eine Erkenntnis hat mich bei allen Zeitungsartikeln vor zu großer Nervosität bewahrt, und zwar, dass die Journalist*innen und die Zeitung kein Interesse daran haben, das Buch oder mich schlecht zu machen. Sie brauchen Content und müssen im Bericht mehr oder weniger bestätigen, dass die Sache, über die sie berichten, berichtenswert ist. Ansonsten würden sich Leser*innen fragen, warum sie das Zeug überhaupt lesen. Kein*e Journalist*in wird in einem Fall wie meinem schreiben, dass es das Buch gäbe, es aber nicht lesenswert sei. Warum dann der Bericht? Wäre ich bereits berühmt, sähe es anders aus. Dann könnte man mit Verrissen Aufmerksamkeit erzeugen.

Daraus kann man weiter schließen, dass alles, was verkaufsfördernd oder gut fürs Marketing ist, auch interessant für die Presse ist: Alleinstellungsmerkmale. Es nicht einmal besonders wichtig, ob die erwähnten Eigenschaften überhaupt Alleinstellungsmerkmale darstellen, sondern nur, ob sie als solche aufgefasst werden könnten. Ein Beispiel wäre, dass ich nicht der Meinung bin, dass Figuren oder Ich-Erzählinstanzen, deren Geschlecht ungeklärt bleibt, im Jahr 2020 noch Alleinstellungsmerkmale darstellen oder darstellen sollten, auch wenn ich in Erschütterungen. Dann Stille. zum ersten Mal bewusst damit gearbeitet habe. Dennoch ist der Gedanke – nicht nur, dass es so gehandhabt werden könnte, sondern auch, dass man darüber überhaupt nachdenken oder darauf achten könnte; der komplette Diskurs eigentlich – für viele Menschen fremd oder neu und daher erwähnenswert für die Zeitung.

Kurz: Denkt darüber nach, was den Zeitungsleser*innen neu oder interessant erscheinen könnte, bevor ihr in ein Gespräch geht! Das gibt euch Sicherheit und (was mir bei derart nervösen Angelegenheiten wichtig ist) es verkürzt das Gespräch immens. Damit möchte ich übrigens nicht sagen, dass das Gespräch an sich unangenehm gewesen wäre, denn es lief sehr freundlich ab, sondern dass Telefonate mit Fremden generell unangenehm sind für mich.

Das Gespräch

Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass Journalist*innen „nur“ Menschen sind, sollte man auch daran denken, dass sie im Gespräch ihren Job erledigen und dafür nicht unendlich viel Zeit haben. Das finde ich beruhigend. Eine aus reiner Neugierde interessierte Person hat potenziell keinen Endpunkt für das Gespräch im Kopf. Das Interesse würde mich freuen, aber die Endlosigkeit wäre anstrengend.

Es gibt einen vorgefertigten Fragenkatalog, der sich auf den Infos aufbaut, die man zuvor liefert oder die anderweitig recherchiert werden. Man kann also das Gespräch im Vorfeld manipulieren/beeinflussen, indem man entsprechende Informationen liefert. Aber wie läuft es dann konkret ab?

Während es im direkten Gespräch oft mit Smalltalk beginnt, kommt man im Telefonat schneller auf den Punkt. So ist es jedenfalls diesmal gewesen und so würde ich es selbst auch handhaben. Begrüßung, Frage, Antwort, Frage, Antwort, Witzchen, aufgelockerte Stimmung, Frage … Das bedeutet (für alle andere Nervösen da draußen): Wenn es nicht anders geht, beantwortet man nur extrem knapp alle Fragen und bringt es hinter sich. Das geht. Ich bin nur knapp daran vorbeigeschlittert.

Am Ende des Gesprächs gibt es immer noch die eine letzte Frage: „Haben Sie noch etwas, das Sie über Ihr Buch sagen wollen?“; oder: „Möchten Sie noch etwas hinzufügen?“ Sofern ihr beim Gespräch das Gefühl gehabt haben solltet, dass wichtige Punkte untergegangen sind, ist das eure Chance. Diesmal hatte ich sogar noch eine weitere Chance.

Nachbearbeitung & Das Foto

Mein übliches Autorenfoto, das man immer mal wieder online sehen kann, hatte ich auch zu Alexandra Wachelau geschickt. Allerdings hatte ich mir bereits gedacht, dass das ein Problem sein könnte. Zeitungen veröffentlichen ungern Fotos, deren Rechte sie nicht besitzen. Außerdem pflegen Zeitungen einen bestimmten Stil, den sie beibehalten wollen. Lokalzeitungsfotos erkennt man. Daher ist ein professionell geschossenes und offensichtlich gestelltes Foto problematisch.

Dieses Problem haben wir am Ende des Telefonats thematisiert. Da ich am nächsten Tag Besuch von einem guten Freund, der übrigens auch immer einen Anteil an der relativen Fehlerfreiheit meiner Bücher hat, erwartete, konnte ich versprechen, dass ich Fotos in einem passenderen Stil nachliefern würde. Das wiederum hat mir zusätzliche Bedenkzeit gegeben, um das Telefonat zu verarbeiten und darüber nachzudenken, was ich vergessen haben könnte. Zwei Tage nach dem Gespräch also habe ich das Foto und nachgelieferte Informationen verschickt. Damit war die Sache aus meiner Hand. Weitere zwei Tage später ist der Artikel online gewesen.

Glänzende Augen

Der Grund für den halbwegs selbstbewussten Gesichtsausdruck und den Glanz in den Augen auf dem Foto hat einen Namen: Jack Daniels. Missversteht das bloß nicht als Aufforderung! Ihr seht nicht besser aus und redet nicht klügeres Zeug, wenn ihr trinkt. Es kommt euch höchstens so vor. Allerdings kann ich nicht anders, als daran zu denken, dass mein Gesicht nur so aussieht, wie es auf dem Foto aussieht, weil ich bereits eine Weile vorher zu trinken angefangen hatte. Vielleicht sehe ich nüchtern besser aus. Ich weiß es nicht. Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden.

Tipp zum Foto: Solltet ihr ebenfalls selbst ein Foto besorgen müssen, fragt vorher nach dem Format! Ruhr Nachrichten verwendet üblicherweise Querformat, aber ich hatte Hochformat geliefert. Das ist übrigens der Grund, warum das Buch nicht (vollständig) zu sehen ist – je nach Ausgabe ist es mal gar nicht und mal nur die Kante zu sehen.

Konsequenzen und Gründe

Als Autor möchte ich bekannt werden und letztendlich vom Schreiben leben können. Das ist mein Traum. Ohne diesen Traum wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich durch einen derartigen Strudel der Nervosität zu zwingen. Allerdings ist mir bewusst, dass ich viel Zeit, Mühe und Ambiguitätstoleranz benötige, um mein Ziel zu erreichen. Leider kann ich daher hier nicht davon berichten, dass ich nach jedem Zeitungsartikel stapelweise Bücher verkaufen würde. Allerdings steigen die Verkaufszahlen ein wenig. Für mich ist ein solcher Artikel hauptsächlich eine Investition in die Zukunft. Man liest meinen Namen in Verbindung mit Literatur. Idealerweise passiert das immer wieder. Auf Twitter, auf meinem Blog, auf anderen Blogs, beim Buchensemble , in der Zeitung, bei Interviews oder man hört ihn bei Podcasts. Irgendwann, hoffe ich, sieht man ein Buch von mir irgendwo, und denkt: Den Namen kenne ich. Das reicht manchmal schon.

Von allem Verkaufskram abgesehen tun ein solcher Zeitungsartikel und seine Auswirkungen einfach gut. Man nennt mich öffentlich „Autor“. Menschen kommen auf mich, meine Familie und meine Freund*innen zu und sagen: „Matthias ist in der Zeitung, großartig!“ Das streichelt das Ego. Manchmal braucht man als Autor*in diese kleinen Streicheleinheiten, selbst wenn man eigenständig dafür gesorgt hat. Genießt das! Sowas tut euch gut und macht die Arbeit besser, es gibt Energie für weitere Projekte und bringt Anerkennung. Impostor Syndrome ist bei Autor*innen weit verbreitet und das ist ätzend. Mir geht es oft genug so. Daher erzwinge ich manchmal Momente des Stolzes und der Anerkennung. Das muss sein. Ich weiß, was ich kann. Ich muss nur mich und die Welt daran erinnern.

Hinweis: Zeitungsartikel

Dank Pandemie gab es keinen Besuch, sondern ein freundliches Telefonat. Dabei ist dieser Zeitungsartikel im Lokalteil der Ruhr Nachrichten entstanden. Die Paywall wird für viele den 1minütigen Lesespaß verhindern, aber es geht um Erschütterungen. Dann Stille. und einige Hintergrundinfos.

Hombruch veröffentlicht ersten Erzählband

Erschütterungen: Das Cover

Blick hinter die Kulissen: Entstehung des Covers von Erschütterungen. Dann Stille.

Ohne Buchcover geht es nicht. Es ist das erste Element eines Buches, das Leser*innen sehen, sein Gesicht. Besonders für mögliche Leser*innen, die Buch und Autor*in noch nicht kennen, ist das Cover ein Verkaufsargument oder wenigstens ein verkaufsförderndes Argument. Es soll Aufmerksamkeit auf sich ziehen und bereits eine Vorstellung des Genres vermitteln. Ich bin kein Fan von Covern und schreibe keine Literatur, die man am Cover erkennen oder mit Hilfe des Covers besser einordnen könnte. Dennoch habe ich viel Freude an der Entwicklung eigener Cover zusammen mit einem guten Freund. Hier also soll es um das Cover der Kurzgeschichtensammlung Erschütterungen. Dann Stille. gehen.

Elemente

Auf der Suche nach einem Motiv fürs Cover von Erschütterungen. Dann Stille. musste ich diesmal noch intensiver überlegen als im Falle von Sorck, Das Maurerdekolleté des Lebens oder Alte Milch. Das lag hauptsächlich an der Natur des Buches. Es handelt sich nicht um eine einzige Geschichte oder einen dicht zusammenhängenden Komplex von Geschichten, sondern um 29 einzelne Erzählungen, die lediglich ein Oberthema teilen.

Das wichtigste Element, das irgendwie vertreten sein sollte, war logischerweise die Erschütterung. Außerdem wird in den Geschichten nicht wenig Alkohol konsumiert. Das wäre also ebenfalls ein guter Punkt, den man einbauen könnte. Schließlich hätte ich noch gern einen konkreten Bezug zu mindestens einer Geschichte gehabt. Das waren die drei sehr groben Elemente, die ich gern im Covermotiv vereint hätte. Wie die ersten Ideen aussahen und wie sich daraus das Cover entwickelt hat, werde ich gleich darstellen, aber zuvor zeige ich es euch mal.

Erschütterungen. Dann Stille.: Das Cover

Was sehen wir? Klar im Fokus steht ein Weinglas, das auf einer ausgestreckten Hand ruht und auf dessen Kante wiederum ein umgekehrtes Kartenhaus balanciert wird. Im Weinglas befinden sich einige Weintrauben. Fertig.

Das dominierende Element des Bildes ist Gleichgewicht, ein großer Balanceakt, der für sich schon kaum (oder realistischerweise gar nicht) gehalten werden kann und durch eine – Achtung! – Erschütterung vollends ruiniert werden würde. Man kann sich denken, dass eine Idee dahintersteckt. Am besten kann man diese Idee verstehen, wenn ich etwas aushole und die Entwicklung der Idee nachzeichne.

Die erste Idee

Eine Art Stillleben: Ein Stück Pizza liegt auf aufgerissenem Asphalt, ein Strunk Weintrauben daneben und ein leeres Glas (Whiskey Tumbler oder Weinglas). Mir gefällt die Idee noch immer.

Der gerissene Boden würde sich auf die Erschütterungen beziehen, die Folgen eines Erdbebens oder einer Explosion. Die Pizza bezöge sich auf die Erzählung Übler Nachgeschmack und damit auf eine ganz andere Art von Erschütterung. Die Weintrauben können unschwer der Kurzgeschichte Trauben zugeordnet werden, während sich das Glas auf den Alkoholkonsum in mehreren Storys in Erschütterungen. Dann Stille. bezieht.

Leider ist diese Version, die ich mir wie ein surreales Stillleben vorstelle, nie bis zum Fotostadium vorgedrungen. Daher müsst ihr jetzt eure Fantasie anstrengen und euch das Bild vorstellen.

Warum habe ich diese Idee verworfen? Einerseits gab es einige Fragen bezüglich der technischen Umsetzung, dann war es bereits Herbst geworden und obwohl sich dieser Herbst wie ein missratener Sommer anfühlt, erschwerte der Regen doch unsere Pläne, und letztlich befürchtete ich, dass das Motiv zu random und langweilig erscheinen könnte für ein Buchcover.

Eine neue Idee

Die nächste Idee benötigte ähnliche Elemente, sollte aber 1. indoor umsetzbar sein und 2. einen weniger platten (wörtlich zu verstehen) Aufbau haben. Die erste Idee hätte komplett auf dem Boden, fast zweidimensional, stattgefunden. Ich wollte etwas, das in die Höhe steigt.

Statt die Auswirkungen einer Erschütterung zu zeigen (wie den aufgerissenen Boden), habe ich mich dafür entschieden, zu zeigen, was erschüttert werden könnte. Das Leben, symbolisch dargestellt. Okay, okay, das klingt etwas übertrieben, aber ist möglich. Das Leben ist eine instabile Konstruktion, die wir errichten auf Gewohnheiten, Gelerntem, Beziehungen, Traumata und vielem mehr. Ich brauchte etwas, das man stapelt, aus dem man Konstruktionen baut. Zuerst dachte ich an Bauklötze. Die hätten dem Cover Farbe gegeben, was allerdings nicht zum Stil meiner sonstigen Cover gepasst hätte. Bauklötze sind außerdem zu klotzig. Ich mochte allerdings, dass man sie sofort mit der Kindheit in Beziehung bringen kann, was zum Aufbau eines Lebens passt, da viele Bausteine des eigenen Lebens und Erlebens in der Kindheit gelegt werden.

Nur Steine oder anderes Stapelbares allein wäre langweilig und unsinnig gewesen. Also hätte ich gern ein Glas mit eingebaut. Ich dachte an einen Whiskey Tumbler, an den sich die Steine als Stütze lehnen und den sie einmauern. Da es im Zusammenhang mit Alkohol in Erschütterungen. Dann Stille. um Sucht geht, wäre die symbolische Aussage interessant gewesen. Eine Erschütterung bringt die Ordnung durcheinander, wirft die Steine um und das Glas bleibt stehen als sei es eine Lösung. Rückkehr zu schlechten Verhaltensweisen.

Statt der Bauklötze kam ich relativ bald auf Spielkarten. Sprichtwörtlich bauen wir ständig Kartenhäuser, die uns schützen sollen, unterstützen sollen. Argumente, die keine sind, werden übereinander gestapelt und wir hoffen, dass wir uns selbst irgendwann glauben werden. Sucht funktioniert manchmal so. Aber auch viele andere Verhaltensweisen. Außerdem kann man mit Spielkarten spielen, was wiederum auf die Kindheit bezogen werden kann. Spielkarten passen wunderbar in Kneipen, die ebenfalls im Buch vorkommen. Als Element passte es also. Dass man das Glas füllen könnte, fiel mir natürlich auch bald ein – halb voll, halb leer? Damit waren wir wieder bei Trauben (wobei die schon ins Wanken geraten waren).

Der künstlerische Blick

Obwohl ich mir ganz gut etwas Ahnung im literarischen Bereich andichten kann, fehlt mir diese Ahnung, was optische Medien angeht. Es fällt mir schwer, mir Bilder vorzustellen oder mir Bilder anders vorzustellen als sie sind. Sagt man mir: „Das ginge auch etwas dunkler, würde dir das gefallen?“, habe ich keine Ahnung, weil ich es mir nicht vorstellen kann.

An dieser Stelle kommt mein Freund Toby ins Spiel. Toby hat genau die Ahnung, die mir fehlt, und das nicht nur in Sachen bildliche Vorstellungskraft, sondern auch in der Umsetzung (Fotografie, Zeichnen, Grafikprogramme, Handwerkliches etc.) dieser Vorstellungen. Er hat sich meine (sehr sehr groben) Skizzen angesehen und sich angehört, wieso ich welche Elemente verbaut habe. Nach kurzer Überlegung hat er die Komposition komplett umgestellt, das künstlerische Level der Idee massiv erhöht, sie weniger offensichtlich gemacht, und dennoch alle wichtigen Elemente beibehalten.

Die neue Komposition

Kartenhaus, Weinglas, Trauben, leicht zu erschütterndes Gleichgewicht. Während meine Idee einer ungelenken Kinderzimmerkonstruktion ähnlich sah, wirkt die neue Komposition zerbrechlich, künstlerisch und symbolkräftig. Jetzt mussten wir das Monstrum nur noch umsetzen. Es war erheblich komplizierter, als es hier klingen wird.

Das Glas hatten wir, eine Leihgabe aus Tobys Küchenschrank. Weintrauben waren schnell besorgt. Die Hand ist meine. Bleibt das Kartenhaus, aber *+%$ war das nervig. Wie ich jemals Modellbau als erheblich jüngerer Mensch zum Hobby haben konnte, wundert mich. Ein Kartenhaus ohne Klebstoff zu bauen, ist schwierig, und mit Klebstoff ist es auch nicht viel leichter. Egal. Ich habe zum ersten Mal eine Heißklebepistole in die Hand genommen und ein Kartenspiel zerstört.

Diese unschöne Version hat mich etwa eine Stunde gekostet. Die Version, die wir für das richtige Foto gebrauchen konnten, nötigte mir fast drei Stunden ab, und ich bin kein geduldiger Mensch. Aufgehängt haben wir das Kartenhaus an dünnen Bändern an der Decke. Grundsätzlich funktionierte es. Fehlte nur noch der richtige Hintergrund, die Beleuchtung, der Winkel … Also fast alles.

Fotos

Wir entschieden uns für Aufnahmen in meiner Wohnung, um Hintergründe auszutesten. Zunächst wollten wir einen volleren Background, der „inhaltlich“ passte. Die Entscheidung fiel auf meine Bücherregale.

Man beachte die schöne Ausleuchtung und das Schattenspiel. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir dahin gekommen waren. Es kostete uns außerdem eine Lampe, die im Eifer des Gefechts zerschmettert ist.

Da ich bereits vermutete, dass das Bücherregal als Hintergrund zu unruhig sein könnte, versuchten wir es noch an einer anderen Stelle. Wiederum etliche Versuche später, entstand dieses schöne Bild.

Hier gefallen mir die zueinander passenden Winkel der Wand und des Kartenhauses. Leider ist das keine Absicht gewesen, sondern wunderschöner Zufall. Fast schade, dass die helle Fläche nicht zum Cover, der Schrift usw. gepasst hat. Fehlte „nur“ noch die Nachbearbeitung.

Nachbearbeitung

Helle Fläche passend zur dunklen, Fäden entfernen, weitere Kleinigkeiten, Schrift (Position, Stärke, Wirkung und und und), Buchrücken und Rückseite (bei beiden wieder Einpassung des jeweiligen Textes mit allem drum und dran) nach Vorgaben des Distributors und dann noch einmal in anderer Version für E-Books. Punkt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich keinen fairen Lohn für diese ganze Arbeit bezahlen muss und dass ich gleichzeitig das jedes Mal wieder spannende Erlebnis einer gemeinsamen Entwicklung und Umsetzung eines Bildprojekts, das dann zum Buchcover wird, miterleben darf. Mein herzlichster Dank geht an dieser Stelle erneut an meinen guten Freund Toby!

Und weil es so schön ist, kommt das Cover von Erschütterungen. Dann Sille. hier noch einmal:

Verkaufslinks

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Erschütterungen. Dann Stille.: Leseprobe

Erschütterungen. Dann Stille.: Leseproben

Erschütterungen. Dann Stille. ist ein Buch mit insgesamt 29 Erzählungen unterschiedlicher Länge. An dieser Stelle werden Ausschnitte mehrerer Geschichten (Anfänge oder Parts aus der Mitte) als kostenlose Leseprobe zu lesen sein. Doch zuvor der Klappentext:

Klappentext

»Was halten wir aus? Wann zerbrechen wir? Manchmal wollen wir alles in Schutt und Asche legen, nur um zu vergessen oder erinnert zu werden …

Ich werde dir nicht sagen, dass du dich in die 29 Erzählungen dieses Bandes fallen lassen sollst. Sich fallen lassen in Geschichten, die von Erschütterungen handeln, die das Leben bereichern, ärmer machen oder zerstören? Wie spannend.

Auch werde ich dich nicht marketingwirksam dazu einladen, die Figuren zu den Epizentren ihrer eigenen Geschichten zu begleiten und mitzuerleben, wie sie durch die Erschütterung von Körper, Geist und Realität stärker, freier, euphorisch werden oder einfach nur kaputt gehen.

Nein. Dieses Buch ist anders. 29 Geschichten, ja. Erschütterungen? Definitiv. Aber: Lass dich nicht fallen, niemals, sondern beiße dich fest! Nutze die Stille für eigene Gedanken! Werde wütend, traurig, laut und erschüttert! Erschüttert!«

Leseproben

Am Fluss

Kruppke stoppte seine Arbeit und sah mir ins Gesicht.
»Babykatzen? Wirklich?« Er überlegte.
»Wie im Zeichentrickfilm?«
»Ja, einen kleinen, jaulenden Sack voll Kätzchen.«
Mein Gedächtnis spielte mir die Szene noch einmal vor. Die Frau, die Brücke, das Fiepen vor und nach dem Aufklatschen aufs Wasser, dann Stille. Langsam trieb der Sack flussabwärts und verschwand. Ich ersparte Kruppke die Details. Auch wenn er keineswegs so aussah, hatte er einen weichen Kern. Manchmal geradezu matschig. Hätte ich ihm alles genau geschildert und ihm noch etwas zugeredet, hätte ich ihm nur noch eine Adresse geben müssen und er hätte den gerechten Zorn Gottes zur Katzenfrau getragen. Doch das war nicht mehr nötig.

Der Mitatmer

Er atmet mit mir, durch meinen Mund, durch meine Nase, immer knapp vor dem Gesicht. Er atmet meinen Atem, isst die Krümel aus den Mundwinkeln, leckt mir die Sauce von den Lippen und lässt sie bitter schmecken. Er kommt mit wenig aus. Manchmal vergesse ich ihn fast. Dann ruft er sich leise in Erinnerung, wackelt mir liebevoll an den Zähnen, kreischt wie Reifen in den Ohren. Ich würde mich gern wegdrehen und nicht immer diese Augen sehen. Wie ein dünner Film auf den Pupillen, wie Schwimmer in den Augen. Sieht man ihn einmal, verschwindet er nicht mehr. Nur manchmal ist da ein Schimmern, ein Umriss. Er steht zwischen mir und der Welt. Er atmet meinen Atem, erstickt meine Stimme und kommt mit wenig aus. In einem langsamen Tanz hält er mich umschlungen, presst mir die Luft aus den Lungen, führt mich spazieren wie einen Hund und dreht sich manchmal wie die Reflexion der Sonne in einem Fenster, das man öffnet. Doch immer sind die Augen auf mich gerichtet. Ich werde langsam blind. Er ist so nah. Seit damals. Seit damals ist er geblieben. Wie ein Zerrspiegel aus Dunst, der mir direkt vor den Augen schwebt. Fahre ich Auto, ist es am schlimmsten. Ich fahre nicht mehr mit dem Auto. Beinahe kann ich seine Haut erkennen, seine Kälte spüren. Der Mitatmer ist eingestiegen. Ich habe ihn eingeladen. Wie ein Reh. Scheinwerferkegel, dunkle Straße, wie ein Reh. Er war plötzlich auf der Straße wie ein Reh und dann auf der Windschutzscheibe. Nur für einen Moment. So kurz. Er sah mir in die Augen. So schnell. Dann flog er weiter. Er flog und schlug auf und er schrie und ich drückte das Pedal durch, doch er blieb bei mir. Er blieb. Er steht mir direkt vor den Augen. Er atmet meinen Atem. Bitte, nicht mehr. Er ist so nah. Es tut mir leid. Er will nicht gehen …

Double Cheese

[…]

Ein seltsamer Kontrast bestand zwischen dem strahlenden Grün der Wiese neben dem geharkten Fußweg und dem schwarz verrußten Grauhimmel über mir. An manchen Stellen schien er hölzern-fleckig zu sein, als klebten Wolken hinter der Himmelskuppel anstatt davor, oder als ließen Fahrlässigkeit und Alter dieser Welt die Leinwand Gottes unter seiner Arbeit durchschimmern. Konzentrierte ich mich auf den Horizont, war es, als stünde man in der Tür zwischen einem Konzertsaal, in dem Bach gespielt wird, und einer Werkshalle, in dem Steinbrocken geschreddert werden. Man konnte das Geschrei des Himmels sehen und den Gesang des Bodens spüren. Zugleich war es totenstill. Aufgrund der Stille kam mir mein Puls lauter vor. Plötzlich vernahm ich Schritte. Sie näherten sich schnell von hinten. Als ich mich umdrehte, bekam ich eine heftige Ohrfeige und sank in die Knie. Vor mir schüttelte eine Frau, die ein aufgeschlagenes Buch auf dem Kopf balancierte, ihre Hand, als hätte sie sich verbrannt. Sie bemerkte meinen Blick, holte tief Luft und begann folgende Worte in großer Geschwindigkeit und ohne Atempausen herunterzurattern:

»Sehen Sie, mein Herr oder meine Dame, ich urteile nicht, Sie fragen sich nicht, womit Sie eine Ohrfeige verdient haben in dem Sinne, ob Sie überhaupt eine verdient hätten, sondern vielmehr im Sinne einer zu großen Auswahl an Auslösern oder Gründen oder Schuldzugeständnissen, aber in Wirklichkeit ist es unerheblich, ob Sie Schuld haben oder nicht, denn es zählt nur, ob Sie welche tragen, das heißt, glauben, Schuld zu haben und gestehen zu müssen, weshalb Sie nicht protestieren, sondern insgeheim dankbar sind, dass ich Ihnen den Gefallen getan habe, Ihre Schuld, welche auch immer es sei, zu bestätigen, zu bestrafen, damit schließlich zu läutern, und das ist meine Aufgabe: Ich helfe den Leuten.«

Sie beugte sich schwer atmend vor und stützte die Hände auf die Knie. Mit der erhobenen Hand bat sie wortlos um einen Moment der Erholung. Dann sprach sie weiter:

»Wenn Sie es wünschen, kann ich das Szenario verkomplizieren und beispielsweise einen Gerichtssaal improvisieren, ich sehe es schon vor mir, eine Tribüne mit 12 Geschworenen – warum eigentlich immer 12? Hat das etwas mit Jesus zu tun? – dort drüben und eine Richterbank hier vorn, das Publikum würde ‘runter mit dem Kopf’ brüllen, aber vielleicht verwechsele ich hier die Albträume, und am Ende würden alle einsehen, dass es ihre einzige Aufgabe ist, bei Ihrer Selbstanklage und Ihrem Gejammer zugegen zu sein – Das hatten wir alles schon, ein weiterer Albtraum! –, und alle gehen gelangweilt nach Hause außer Ihnen, weil Sie etwas gelernt haben oder glauben, etwas gelernt zu haben, oder auch bloß zufrieden sind mit einer weiteren durchstandenen Jammerrunde, Sie Käse fress… en… d«.

Plötzlich sank sie mit blau angelaufenem Gesicht zu Boden und regte sich nicht mehr. Aus der Wiese zu meiner Rechten erhoben sich kleine Erdhügel und aus jedem blickte ein kleiner Kopf. Ein paar Männchen gruben sich selbst aus und, als sie mich entdeckten, begannen mich breit anzugrinsen. Während sie zur Frau mit dem Buch auf dem Kopf schlichen, hielten sie permanent Blickkontakt mit mir. Einige begannen zu tanzen und zu hampeln. Mein einziger Gedanke, dessen Herkunft ich mir nicht erklären konnte, lautete: Ihr schon wieder. Die grinsenden Männchen packten die Frau an den Hand- und Fußgelenken und zerrten sie zur Wiese links von mir. Wie in Wasser tauchten sie unter und während die Männchen plantschende Geräusche verursachten, ließ die Frau den Klang von knisterndem Bonbonpapier zurück.

Schlammläufer

[…]

Max starrt auf die Fliesen vor sich. Manchmal steht er direkt vor mir, aber ich kann seinen Atem nicht riechen. Was er ausatmet, ist die Abwesenheit von Luft. Ich kann nicht atmen, was er atmet. Er atmet Ersticken. Max lächelt unsicher. Will er mir Angst machen? Ich suche die Wände und die Decke nach versteckten Kameras ab, denke an die Möglichkeit einer Prank-Show. Wer weiß schon, was man alles unterschreibt, ohne es genau zu lesen? Wenn es keine Show ist und ich nicht im Koma liege (ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht im Koma liege), steckt Max möglicherweise alleine hinter der Nummer. Nicht nur das verfallene Gebäude ist mir nicht geheuer, sondern auch, es mit einem fast nackten Typen teilen zu müssen.

Max? Ich werde mich im Gebäude umschauen. Max nickt, dann schüttelt er heftig den Kopf. Lass mich nicht direkt wieder allein! Kann ich mitkommen? Falls er schauspielern sollte, macht er einen guten Job. Ich kriege Mitleid. Hör zu! Wenn du unbedingt mitkommen willst, läufst du bitte vor mir. Ich weiß nicht, was hier Sache ist, und ich kenne dich nicht. Während ich das sage, suche ich den Boden nach lockeren oder abgebrochenen Fliesen ab, die ich als Waffe einsetzen könnte. Nichts zu machen. Ich werde unterwegs Ausschau halten.

Dann signalisiere ich Max aufzustehen und deute auf einen Durchgang genau in der Mitte der Wand. Max erhebt sich und ich kann mich nicht entscheiden, ob er mich dabei an einen kleinen Jungen oder einen alten Mann erinnert. Er wirkt schwerfällig, aber auch flapsig. Während er vor mir läuft, fällt mir auf, wie albern die Mischung aus Badehose, Laufschuhen und Socken wirkt. Vor dem Durchgang bleibt er stehen und schaut mich an. Er braucht eine Bestätigung. Ungeduldig nicke ich und er geht hindurch. Gefliester Flur, Schilder mit Hygiene-Hinweisen und Verboten, links und rechts Türen zu Gruppenduschen. Sollte ich Raum für Raum inspizieren?

[…]

Verkaufslinks

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Erschütterungen. Dann Stille.

Über das vierte Buch von Matthias Thurau: Erschütterungen. Dann Stille. Eine Sammlung von Kurzgeschichten und Erzählungen.

Zum vierten Mal ist es soweit. Ein von mir verfasstes Buch wird veröffentlicht (am 15.11.2020). Mit Erschütterungen. Dann Stille. kommt zum allerersten Mal eine Sammlung von Kurzgeschichten und Erzählungen auf den Markt. 29 Texte auf 194 Seiten. In diesem Blogeintrag möchte ich ein wenig auf den Titel eingehen, darauf, was die Leser*innen im Buch erwartet und welche Blogartikel begleitend hier erscheinen werden.

Erschütterungen. Dann Stille?

Meine Literaturprojekte entwickeln sich im Geheimen, schleichen sich an und stehen plötzlich da. Dass aus einem Romanmanuskript ein Roman werden wird, ist offensichtlich, aber dass eine kurze Geschichte (und dann noch eine und noch eine) schließlich zum Teil eines Erzählbandes wird, ist mir im Moment der Bearbeitung nicht bewusst. Daher benötigte ich im Nachhinein eine Überschrift. Zuerst waren die Geschichten da, dann das Buch.

Die Überlegung, was alle Geschichten miteinander gemein haben, führte mich zu Erschütterungen. Ein Testleser merkte einmal an, dass er gerade jene Erzählungen von mir besonders schätze, in denen es Explosionen gibt. In Sorck gibt es einige davon, in Erschütterungen. Dann Stille. ebenfalls. Das wäre eine Art von Erschütterung. Die meisten Geschichten drehen sich aber um erschütterte Leben, erschütterte Menschen, Traumatisierte und Traurige. Durch Ereignisse aus dem Gleichgewicht geratene Personen, erschütterte Existenzen.

Wenn eine Explosion oder das emotionale Äquivalent zum ersten Mal vorüber ist, kehrt manchmal eine seltsame Stille ein. Die Ohren haben Schaden getragen oder das Hirn kann das Chaos nicht verarbeiten oder man ist einfach allein mit den Trümmern. Ein Streit endet, eine Tür knallt, plötzlich ist es still. Ein Gebäude stürzt in sich zusammen, überall ist Staub und es wird still.

Ich stelle mir meine Protagonist*innen und Erzählinstanzen gern in einer solchen Stille vor. Auch die Leser*innen möchte ich in eine ähnliche, wenn auch abstraktere und beschütztere, Stille versetzen, um sie zum Nachdenken zu bewegen, sie auf sich zu stellen für einen Moment. Es geht mir nicht um Action, sondern um das, was danach kommt.

Weniger ErzählER

Ob es überhaupt erwähnenswert ist, weiß ich nicht, aber nicht alle Figuren in Erschütterungen. Dann Stille. sind männlich und eben so wenig alle Erzählinstanzen. Ich wollte ein wenig weg von der Eindimensionalität dieser Gewohnheit oder Tradition oder wie immer man es sonst nennen möchte. Über viele Jahre hinweg habe ich unbewusst nur Bücher von Männern gelesen und diese wiederum nutzten nur männliche Protagonisten und Erzähler. Ich bin froh, dass ich den Automatismus für mich gebrochen habe.

In Erschütterungen. Dann Stille. gibt es zwar noch immer Protagonisten und Ich-Erzähler, aber auch Perspektiven weiblicher Figuren und Geschichten, die keine Hinweise auf das Geschlecht der Ich-Erzählinstanz geben. Das geht manchmal unter, weil Leser*innen eben doch unbewusst ein Geschlecht auswählen oder herauszulesen meinen. Es ist durchaus interessant, wenn verschiedene Personen die gleiche Geschichte unterschiedlich lesen, weil sie das Geschlecht der Erzählinstanz verschieden interpretieren.

Mehr Herz, weniger Kopf?

Erschütterungen. Dann Stille. enthält mehr Geschichten, die man mitfühlen kann, als verkopfte Storys. Wer Sorck oder Das Maurerdekolleté des Lebens gelesen hat, wird bestimmte Erwartungen an den Erzählband haben. Diese Erwartungen werden nicht enttäuscht, aber auch nicht vollends erfüllt werden. Meiner Meinung nach liegt Erschütterungen. Dann Stille. ungefähr auf halbem Weg zwischen den beiden Prosa-Veröffentlichungen und dem Gedichtband Alte Milch.

Das liegt einerseits an der Kürze der Texte, die eher einen emotionalen Abriss zulassen als eine tiefere Idee. Dass dennoch beides möglich ist, wird man in manchen Erzählungen bemerken. Andererseits sehe ich dieses Buch als weiteren Schritt meiner literarischen Entwicklung an. Während Sorck noch sehr gekünstelt und gewollt erscheint, zwar gut und mit Recht veröffentlicht, aber für mich nicht ganz natürlich, ist Erschütterungen. Dann Stille. deutlicher und fühlt sich zum jetzigen Zeitpunkt richtiger an. Der Erzählband enthält weniger Selbstzwang zur Arbeit und mehr Erzählfreude, denke ich.

Gerade sprachlich spürt man das deutlich. Es gibt auch hier Ausreißer in absichtlich komplexe (oder verwirrende?) Formen, aber Erschütterungen. Dann Stille. ist kein Kraftakt mehr wie der Roman. [An dieser Stelle sollte ich noch anmerken, dass ich verdammt stolz bin auf Sorck und den Roman nicht niedermachen will, sondern heute eine andere Sicht auf ihn habe als zur Entstehungszeit. Das erscheint mir normal.]

Genremix

Da die Kurzgeschichten und Erzählungen in Erschütterungen. Dann Stille. im Laufe mehrerer Jahre entstanden sind und zum Teil ursprünglich für andere Projekte gedacht waren, besteht das Buch aus einem Mix verschiedener Genres. Viele Geschichten sind Ausschnitte aus Leben, die es tatsächlich geben könnte, und haben wenig Fantastisches an sich. Einige überschreiten die Grenzen des Logischen, um dem Symbolischen zu dienen. Dann gibt es die offen surrealen Werke, die schön abgedreht sind, wie man es von mir kennt. Ein Text könnte als Grusel- oder Horrorliteratur durchgehen und eine einzige Geschichte muss man als Science-Fiction bezeichnen.

Diese Mischung dient der Abwechslung und gibt Erschütterungen. Dann Stille. eine größere Auswahl möglicher Perspektiven und Betrachtungen. Chaos entsteht dadurch nicht, da auch in unterschiedlichen Genres eine Verbindung zwischen den Geschichten besteht. Stil, Ideenwelt und Autor bleiben sich erkennbar ähnlich (ohne langweilig zu werden).

Pläne für den Blog

Wie man es schon von mir kennt, wird es auf dem Blog begleitende Texte zu Erschütterungen. Dann Stille. geben. Diesmal hatte ich das bereits bei der Entstehung der Geschichten mitbedacht. Daher ist einiges bereits vorgearbeitet. Geplant ist ein Blogeintrag zum Cover (wie schon bei Sorck und Das Maurerdekolleté des Lebens geschehen), Blogeinträge zu jeder einzelnen der 29 Geschichten, ein Text zum Thema Namen (Suche, Bedeutung, Charakterisierung), einen Eintrag über Kurzprosa allgemein und eventuell noch Blogeinträge über die Erstellung eines guten und kostenlosen Buchsatzes sowie .epub-Formatierung.

Die Texte zu den einzelnen Geschichten wird es allerdings erst später geben, ab Dezember oder Januar. Sie enthalten alle Spoiler, die nicht vermieden werden konnten, und sollten entsprechend nicht vor den Geschichten selbst gelesen werden. Zwar werde ich die Blogeinträge in der Reihenfolge der Erzählungen im Buch veröffentlichen, aber dennoch kann ich von niemandem erwarten, Erschütterungen. Dann Stille. an den allerersten Tagen zu kaufen und sofort zu lesen. Daher die Wartezeit. Wer doch so schnell kauft und liest, wird es mir hoffentlich verzeihen.