Erschütterungen. Dann Stille.: Unbesiegbar

Über die Erzählung “Unbesiegbar” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Unbesiegbar ist eine der wenigen Erzählungen in Erschütterungen. Dann Stille., die sprachlich komplexer und (absichtlich!) streckenweise ein wenig anstrengend sind, wie ich es im Blogartikel über den Erschütterungen. Dann Stille. angekündigt hatte. Die Entscheidung für diesen Stil hat selbstredend Gründe und neben anderen Details sowie der Grundidee soll es um diese jetzt gehen. Wie immer warne ich an dieser Stelle vor unvermeidbaren Spoilern. Lest also zuerst die Geschichte und dann diesen Blogeintrag.

Content Notes: BDSM, Gewalt

Gesunder versus ungesunder Sadomasochismus

[Letzte Warnung vor Spoilern: Es geht jetzt um das Ende der Geschichte!]

BDSM ist hier schon mehrmals Thema gewesen. Im Blogartikel Freiheit, Geborgenheit, BDSM habe ich den meiner Meinung nach wichtigen Unterschied zwischen gesundem und ungesundem Umgang mit BDSM, krankhafte Züge wie Selbstbestrafung oder Selbstverletzung durch andere, erwähnt. Leo, der Protagonist von Unbesiegbar, ist Masochist und zwar einer der ungesunden Sorte. Das zeigt das Ende der Geschichte eindeutig. Auch wenn er in gewissem Sinne gewinnt, sollte er sich, realistisch betrachtet, Hilfe suchen. Wäre er lediglich kinky und ließe sich gern den Hintern versohlen, gäbe es da nichts einzuwenden. Soviel vorweg. Vergessen sollte man aber auch nicht, dass es auch und gerade beim BDSM nicht ohne Konsens geht und gehen darf. Der Angriff auf Leo ist nicht als sexueller Akt gedacht und eben ein Überfall, also gibt es an dieser Stelle keine Zustimmung. Leo wiederum hatte den Angriff erhofft und geradezu geplant. Er macht ihn zu einem sexuellen Akt, wozu wiederum die Angreifer keinerlei Zustimmung gegeben haben. Großes Durcheinander und keiner hier ist unschuldig. Zum Thema Konsens und BDSM empfehle ich den Gastbeitrag von June T. Michael: BDSM als Utopie.

Namensgebung

Im Blogartikel über Namen habe ich beschrieben, wie ich üblicherweise vorgehe, wenn ich Namen für Figuren suche, und zwar entweder schlicht Bezeichnungen oder im Falle von komplexeren Ideen dahinter. Leo ist definitiv ein Name mit Gewicht und Idee. Leo ist bekanntlich die Kurzform von Leopold. Leopold, wie in Leopold (Ritter) von Sacher-Masoch. Von Sacher-Masoch ist derjenige, nach dem der Masochismus benannt worden ist. Wir haben also bereits im Namen einen (zugegebenermaßen kaum entschlüsselbaren) Vorgriff auf das Ende der Geschichte. Um die Namensgebungsgeschichte des Sadomasochismus kurz zu vervollständigen: Der Begriff Sadismus stammt vom Marquis de Sade. Bondage wiederum stammt von Fürst Jürgen von Bondage-Kinkyboi, was offensichtlich ein Scherz ist.

Leo, der Maso

Leo, der Protagonist von Unbesiegbar, ist Doktorand im Fach Geschichte. Einerseits habe ich diese Info eingebaut, um ein Bild von Bildungsstand und Alter der Figur zu geben. Andererseits hat sein Namensgeber Sacher-Masoch selbst Geschichte studiert, in diesem Fach auch habilitiert und unterrichtete an der Universität. Das bekannteste Werk des Schriftstellers Sacher-Masoch ist Venus im Pelz. Die Eckkneipe nun, in der der Großteil meiner Geschichte spielt, wird Zum Athen(er) Bären genannt. Athen ist als Wink in Richtung griechischer Mythologie (→ Venus) gedacht und der Bär deutet sowohl auf den Pelz im Titel als auch auf die umgangssprachliche Bezeichnung der weiblichen Geschlechtsregion bzw. der dortigen Behaarung hin. Im Grunde handelt es sich also um eine verprollte Verhohnepiepelung des Originaltitels des Romans von Sacher-Masoch. Die scheinbar unnötig lange Herleitung des Kneipennamens in der Geschichte darf man auf die verdrehte Entstehung des Namens eine Ebene höher beziehen oder es einfach lassen. Die Cowgirl-Anmache („[…] auf mir in den Sonnenuntergang reiten“), das Bild des Reitens, habe ich gewählt, da der Originalmasoch(ist) noch dem Ritterstand – wenigstens dem Namen nach – angehörte. „Ritter“ bedeutete ursprünglich schließlich nichts weiter als „Reiter“. Außerdem behaupte ich einfach mal, dass Cowboys als Figuren in der Literatur die vorher populären Ritter ersetzt haben, gerade auch, weil sie viele Parallelen aufweisen. Außerdem mochte ich die Erwiderung sehr, weswegen sie einen Grund benötigte.

Alte Notizen

Unbesiegbar habe ich bereits 2018 geschrieben und im Rahmen der längst aufgegebenen Aktion der Sprachnachrichten aus dem Kellerloch, in der ich Gedichte und Kurzprosa vorgelesen und vertont habe, wurde die Geschichte zum Thema eines Blogeintrags. Der Originalblogeintrag sowie das Vorlesevideo sind längst nicht mehr online. Aber ich habe den Text verwendet, um für diesen Artikel zu recherchieren. Einige Details hatte ich längst vergessen. Beispielsweise kam die Inspiration für die Geschichte ursprünglich offenbar von einem Fall von „misheard lyrics“. Ich hatte They better pray that they’ll never find you verstanden (was ich mir dummerweise ohne Songtitel oder den korrekten Text notiert hatte). Mir gefiel die Idee einer Jagd, die für die Jäger nur schlecht ausgehen konnte. Erst ging ich ins Radikale und wollte eine Art Suicide by Cop schreiben, aber es wäre schwierig nachzuvollziehen gewesen für Leser*innen, dass der Tod des Protagonisten und der Gewaltsieg der Angreifer eigentlich ein Sieg des Toten gewesen sein sollte. Schnell kam ich zur Verbesserung der Idee auf Menschen, die eine Falle stellen, nur um herauszufinden, dass sie selbst mit ihrer Falle jemand anderem in die Falle gegangen sind, und schwächte die Todesidee auf einen kleinen Tod (le petit morte – Orgasmus) ab.

Sprache

Der ungewöhnliche Sprachstil des Textes sollte die Geschichte auflockern und einen (nicht näher definierten) alten Eindruck erwecken, da Sacher-Masochs (1836-1895) Schaffensperiode ja auch schon eine Weile her ist. Hinzu kam, dass Ausbrüche aus diesem Stil sehr viel deutlicher hervortreten. Außerdem empfand ich die Verbindung aus einem alten, förmlichen Stil und sexueller Devianz in Form von Masochismus einfach witzig, weil paradox. Anders als im Falle von Eine Ziege, Vater steht der Humor bei Unbesiegbar im Vordergrund bei der Wahl des Sprachstils und nähert sich damit in gewisser Weise dem Roman Sorck an.

Erschütterungen. Dann Stille.: Übler Nachgeschmack

Über die Kurzgeschichte “Übler Nachgeschmack” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Mit den Worten Sie liegt noch immer in der Küche beginnt die Kurzgeschichte Übler Nachgeschmack im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Was ich mit diesem Anfang bewirken wollte, wie es zur Erzählung gekommen ist und warum Sehnsuchtsgeschichten in jede Anthologie passen, kläre ich in diesem Blogartikel. Ohne Spoiler ist das nicht zu machen. Lest also bitte zuerst die Geschichte und dann den Artikel!

Content Notes: Mord, Essen, Liebe(skummer)

Hunde?

Die erste Assoziation, die ich selbst immer habe, wenn ich den Anfang von Übler Nachgeschmack wiederlese, ist eine Szene aus dem Film In China essen sie Hunde. (Vorsicht Filmspoiler!) Arvid, der Protagonist, hat seine dauernörgelnde Freundin umgebracht. Auf die Frage, wo sie sich befände, antwortet er: Zuhause. Im Flur… und in der Küche. Auch wenn es nichts mit meiner Geschichte zu tun hat, mag ich die Andeutung von extremer Wut in einem sonst ruhigen Charakter sehr. Arvid hatte die Schnauze voll und hat seine Freundin nicht bloß erschlagen, sondern offenbar mindestens in zwei Stücke zerlegt. Dass es ausgerechnet Gewalt gegen Frauen sein muss, die hier als Scherz genutzt wird, gibt natürlich einen üblen Beigeschmack. Zack, Überleitung.

Ähnliche, weniger spezifische Assoziationen würde ich bei Leser*innen von Übler Nachgeschmack gern auslösen mit dem ersten Satz. Da man noch nicht weiß, worauf sich das Sie zu Beginn bezieht, denkt man zuerst an eine Frau. Da sie noch immer in der Küche liegt, tut sie das wohl schon länger. Und warum sollte man ausgerechnet in der Küche liegen? Nur Verletzte und Tote liegen längere Zeit (regungslos) in der Küche herum. Das oder etwas Ähnliches hätte ich gern in die Köpfe der Leser*innen projiziert. Doch nicht die Partnerin ist tot, sondern die Liebe, und nicht sie liegt herum, sondern die Pizza.

Die Pizza

Ursprünglich ist die Geschichte entstanden, als jemand (auf Twitter oder in einem Forum?) dazu aufrief, Geschichten über Pizza zu schreiben. Das war Teil eines Scherzes, den ich vergessen habe, im Rahmen einer Unterhaltung, die ich ebenfalls vergessen habe. Und dennoch war das der Auslöser. Pizza. Was kann man mit Pizza literarisch anfangen? Gar nicht mal so wenig. Slice of Life – gilt das schon als Pun? – wäre eine passende Assoziation. Oder man nutzt die Pizza eben eher symbolisch, wie ich es getan habe.

Zwei Dinge sollte man mit der Pizza in Übler Nachgeschmack verbinden: Hunger und das Festhalten an Dingen, die man loslassen sollte. Die Ich-Erzählinstanz (oder Ich-Erzähler*in?) erwähnt den Hunger zum Zeitpunkt des letzten Streits des Paares. Aber man kann den Hunger auch als Sehnsucht interpretieren. Etwas fehlt, etwas Essenzielles. Nahrung, um zu überleben, oder Seelennahrung, Nähe, Liebe, um zu leben. Loslassen sollte die erzählende Person die Beziehung der beiden, die offensichtlich zerbrochen ist, schlecht geworden, nachdem sie zu lange schlechten Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Irgendwann reicht es. Eine ungesunde Beziehung oder gammelige Lebensmittel sollte man wegwerfen, so schade es auch manchmal sein mag. (An dieser Stelle verlinke ich meinen Blogeintrag über Lebensmittelmetaphern in Alte Milch.)

Das große Fehlen

Ich habe keine Ahnung, wie glücklich du gerade bist. Du liest das hier. Das bedeutet, du hast immerhin die Zeit dazu. Vielleicht interessiert dich das Thema sogar und du liest nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus. Dann könntest du zufrieden sein. Wie groß ist der Anteil der zufriedenen Momente an deinem kompletten Leben? Oder einem Zeitabschnitt, sagen wir innerhalb dieses Jahres?

Auch wenn du glücklich bist, vermisst du sicherlich Dinge, Zeiten, Menschen. Sehnsucht ist etwas, das jede*r kennt. Oder? Ich weiß es nicht, vermute es aber. Auch wenn heutzutage klar ist, dass nicht alle (gesunden wie ungesunden) Menschen romantische Liebe empfinden, fühlen doch alle (gesunden) Menschen irgendeine Form von Liebe. Und immer gibt es in Biographien Zeiten, die es mehr oder weniger verdient haben, vermisst zu werden und Sehnsucht auszulösen. Sehnsucht ist menschlich (wie Irren, was zu Fehlern führt, was wiederum zu Sehnsucht führen kann).

Das große Fehlen von Dingen, Zeiten, Menschen, Zuständen treibt uns voran (und manchmal zurück). Sehnsucht ist ein Zustand, der uns beflügeln kann. Evolutionär sinnvoll. Emotional anstrengend. In der Literatur liegt man selten falsch, wenn man Liebe zum (Neben)Thema macht, und eben so wenig, wenn man Sehnsucht dazu macht. Deshalb sind Sehnsuchtsgeschichten, die auch gerne mal getarnt sind, immer eine gute Wahl für Anthologien. (An dieser Stelle verlinke ich mal wieder den Auftritt von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD, einem perfekten Beispiel für einen Sehnsuchtstext.)

Du fehlst mir

Simplizität bedeutet Direktheit bedeutet schnelles Verstehen bedeutet Mitfühlen. Literatur kann und darf verkopft und seltsam und schwierig sein, aber geht es um Gefühle, geht es um Sehnsucht, ist nichts besser als eine direkte, knappe, scheinbar alltägliche, deutliche Aussage wie Du fehlst mir. Du fehlst mir hat mehr Macht als alle Jahreszeiten- und Blumenvergleiche der Welt. Du wirst mich niemals so an mich selbst und mein Leben und Leiden erinnern, als wenn du Aussagen nutzt, die auch Kindern einfallen könnten: Ich will nach Hause. Du fehlst mir. Lass mich! Ich brauche Hilfe.

Versucht man also, Gefühle in Leser*innen auszulösen, sind direkte Formulierungen unschlagbar. Sie sind da. Sie sind nah. Sie sind so kurz, dass sie sozusagen plötzlich im Auge, im Kopf, im Herzen der Leser*innen sind. Ist der Satz gelesen, ist er bereits verarbeitet und verknüpft. Kein Nachdenken. Nur Fühlen. Sätze mit etwa 2 oder 3 Wörtern brechen Herzen. Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Du bedeutest mir nichts. Geh weg. Sätze, die man hört und sagt, wenn der Kopf im Chaos versinkt und nichts mehr hält. Stil ist egal. Du fehlst mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Spinner

Über “Der Spinner” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Die meisten Autor*innen veröffentlichen nicht direkt ihr erstes Manuskript. Ich auch nicht. Sorck war bei mir Manuskript Nr. 3. Zuvor hatte ich bereits Der König der Maulwürfe und Schildbürger geschrieben. Aus Schildbürger ist schließlich Der Spinner in Erschütterungen. Dann Stille. geworden, also eine kurze Erzählung. Wie ist es dazu gekommen? Dieser Blogeintrag wird es ein Stück weit erklären. Ohne Spoiler ist das unmöglich. Lest also zuerst die Geschichte und dann den Blogeintrag!

Von der Überheblichkeit des Anfängers

Mein erstes Romanmanuskript habe ich ohne Planung geschrieben. Ich weiß, manch eine*r kann das. Ich nicht. Es hat nicht ausschließlich daran gelegen, dass 80% des Manuskripts unter Alkoholeinfluss entstanden sind, dass das Ergebnis zu nah an mir als Person liegt. Grundsätzlich tendiere ich dazu, autobiographisch(er) zu werden, je weniger Planung vorliegt und je länger der Text wird. Der König der Maulwürfe ist ein persönliches Auskotzen mit einigen Kunstelementen und ohne viel Struktur geworden. Immer Nr. 1, aber niemals veröffentlichungswürdig.

Während des Verfassens des zweiten Manuskripts habe ich gerade hochmotiviert die Vorlesungen und Kurse des ersten und zweiten Semesters Komparatistik/Philosophie absolviert. Die meisten Ideen habe ich in der S-Bahn zwischen Bochum und Dortmund entwickelt, wenn ich nicht gerade gelesen habe. Ich vermisse diese Zeit.

Ein dreischichtiger Aufbau, der sich dem Verfasser (mir), der sich wiederum selbst als Kunstfigur und verfälscht darstellt, annähert:

  1. Die Geschichte,
  2. die angebliche Poetik,
  3. die hinterlassenen Aufzeichnungen.

Rahmen waren die Bemerkungen der Familie, die angeblich Manuskript, Poetik und Aufzeichnungen gefunden haben und nach dem mysteriösen Tod zu einem Buch zusammengefasst haben, um mir meinen Lebenswunsch zu erfüllen. Wirres Zeug. Für ein Debüt unmöglich irgendwo unterzubringen. Außerdem musste ich einsehen, dass ich für derartige Experimente noch nicht das notwendige Niveau erreicht hatte. Das Manuskript wurde schweren Herzens beiseite gelegt.

Die Macht des Rotstifts

Jahre später habe ich das Manuskript wieder herausgekramt. Und wieder weggelegt. Jahre später habe ich es erneut hervorgeholt. Es gab Stellen mit Potenzial und lange Passagen, die restlos gestrichen werden mussten. Das habe ich getan. Zunächst habe ich den dreiteiligen Aufbau gesplittet. Part 2 und 3 gehören zusammen und fließen ineinander über. Aber Part 1 konnte für sich stehen. Diesen Teil habe ich mir also vorgenommen.

Noch immer war die Geschichte voll gezwungener Passagen und Ausflüge in Bereiche, die nichts mit dem Kern der Story zu tun hatten. Es wurde erneut einiges ersatzlos gestrichen, ungefähr 2/3 fielen weg, würde ich sagen. Danach wurde mehrmals gefiltert und die Kernidee herausgearbeitet: den Kreislauf der Geschichte und das Spiel mit der Identität (die ursprünglich der Kern des gesamten Romans sein sollte). Ein paar schöne Ideen mussten rausfliegen. Allerdings sind sie nicht vergessen. Vielleicht werden sie in anderen Geschichten auftauchen. Ich habe also jetzt ein komplettes Romanmanuskript zu einer kurzen Erzählung abgespeckt. Weit über 100 Buchseiten weg.

Die Reste

Die erwähnten Parts 2 und 3 beinhalteten ebenfalls einige sehr gute Szenen. Auch wenn eine fiktive Poetik kaum verwendbar sein dürfte, von einigen Sätzen abgesehen, ist dieser Part nicht für Nichts gewesen. Die erwähnten Sätze werden (irgendwann) zu den brauchbaren Teilen aus dem angeblichen Notizbuch (Part 3) gestellt und eine neue Geschichte ergeben: Eine Reise in die Kindheit, eine kreisförmige, sich selbst auflösende Geschichte. Ich mag so etwas ja bekanntlich. Aber zurück zu Der Spinner:

Die Sache mit den Namen

Im Blogartikel Figurennamen suchen und finden habe ich meine allgemeine Vorgehensweise auf der Suche nach Figurennamen dargestellt. Auch Der Spinner wird kurz erwähnt. Hier nun die Details. Im obersten Rahmen erzählt der Erzähler (Maskulinum, weil man idealerweise die Figur der ersten Ebene, den Erzähler und den Autor gleichsetzt – was natürlich ein gewollter Fehler ist) von Matthias. Matthias wiederum schreibt über Matias, aber erst nachdem er sich gegen die Verwendung des eigenen Namens entschieden hat. Später schreibt er über Mateusz. (Randnotiz: Die polnischstämmigen LKW-Fahrer in einem Betrieb, in dem ich einige Jahre gearbeitet habe, nannten mich stets Mateusz, was die polnische Variante meines Vornamens ist.) Im gleichen Absatz wird über Matheo geschrieben. Das Namenskonzept ist offensichtlich, denke ich. Sämtliche Figuren sind nach verschiedenen Ablegern des Namensstammes Matthias/Matthäus benannt. Ursprünglich stammen diese Namen übrigens (über ein paar Zwischenschritte, Übersetzungen und Kürzungen) aus dem Hebräischen, von Mattitjahu ab, was „von JHWH [das Tetragramm des Namens Gottes] gegeben“ bedeutet, was man wiederum als „Geschenk Gottes“ übersetzen kann.

Multiversen?

Neben Daniel Kehlmann und der Pflichtlektüre für die Uni habe ich zur Zeit der Abfassung des ursprünglichen Manuskripts gerne populärwissenschaftliche Bücher über Physik, speziell Multiversentheorien, gelesen. Eine dieser Theorien besagt, dass in einem Universum von unendlicher Größe und endlicher Menge an Kombinationsmöglichkeiten für die vorhandenen Elemente nicht nur unendlich viele Kopien der Erde existieren würden, sondern auch jede Abwandlung davon. Das bedeutet, dass auf unendlich vielen Erdkopien (sofern wir unsere Erde als Original betrachten) jede der Figuren existiert, die ich erfunden habe, und dass sie genau das tun, was ich beschreibe. Die Einschränkung ist hier nur, dass ich die Figuren nicht so erfinde, dass sie den Regeln des Universums widersprechen. Sie existieren allerdings nicht, weil ich sie erfinde, sogar lediglich genau so, wie ich sie erfinde.

Für die Geschichte Der Spinner bedeutet das, dass meine „Kommunikation“ mit der Figur (beziehungsweise jene des Erzählers) tatsächlich stattgefunden hat. Wenigstens in dem Sinne, dass die Person, die der Figur entspricht, eine Stimme mit den exakt gleichen Worten, wie im Text geschrieben, gehört und auf die gleiche Art und Weise reagiert hat. Um Goldmember (aus Austin Powers) zu zitieren: „Ist das nicht abgefahren?“

Was bedeutet es für die Literatur, wenn alles, was sie hervorbringt, tatsächlich passieren würde? Hätte man eine moralische Verpflichtung, ein Happy End zu verfassen? Dann müsste es eine Korrelation zwischen Erfindung des Figuren und Existenz ihrer realen Gegenparts geben. Aber mir ist es um etwas anderes gegangen.

Was ist Gott, wenn die Welt Literatur ist?

Ich bin Autor. Aber in Der Spinner schreibe/erfinde ich jemanden, der ebenfalls Autor ist. Dann erfinde ich eine Kommunikation zwischen Erzähler und Figur. Ich bin jetzt mal ehrlich und gebe zu, ich finde das sch**ß gruselig. Die Überlegung, dass nicht nur ich jemanden erfinden kann, sondern dass auch mich jemand erfinden könnte, erfunden haben könnte. Erfinden, lenken und ins Unglück stürzen. Damit kann ich nicht allein dastehen. Oder? Was bedeutet mein Leben, wenn ich bloß Teil einer Geschichte bin? Wir sind längst im Gedanken einer prädeterminierten Welt. Ich lasse euch mit dem Gedanken allein, wie ich damit allein gewesen bin. (Zur Sicherheit betone ich, dass ich zwar den Gedanken gruselig finde, aber ihn nicht glaube. Das würde wohl an paranoide Wahnvorstellungen grenzen.)

Jorge Luis Borges und der Einfluss der Literatur auf die Realität

Keine Sorge, es wird nicht endlos weitergehen, auch wenn ich noch einige Stunden hier sitzen und tippen könnte. Die Einflüsse, Ursprünge und Ideen von Der Spinner sind Legion. Aber das hier muss noch sein. Eine der bekanntesten Geschichten von Jorge Luis Borges ist Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Ein Meisterstück der Gedankenverdrehung. Brain F*ck, könnte man sagen. Lest die Geschichte (und generell viel mehr von Jorge Luis Borges)!

Jedenfalls geht es um den Einfluss der Erfindung auf die Realität. Was sagt uns, dass es das Erfundene als eigenständige Welt nicht gibt? Dass nicht jede Fiktion irgendwo eine Realität wird? Schöpfung durch Fantasie. Spätestens seit Die unendliche Geschichte kennen die meisten Deutschen dieses Konzept. Es ist hochspannend, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt. Die Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen, und die Ohnmacht, die uns befällt, wenn unsere Welt als Fiktion eines fremden Wesens aufgefasst werden würde. Außerdem: Wer ist Protagonist*in und wer ist Statist*in?

Mehr Gedanken als Worte

Jetzt bereits ist dieser Blogeintrag länger als die meisten Texte auf meiner Seite. Ich habe sämtliche Punkte nur angerissen und könnte noch weit mehr anführen. Tatsächlich ist Der Spinner nicht umsonst eine meiner Lieblingsgeschichten in Erschütterungen. Dann Stille.. Die Story stellt die Essenz der Gedanken mehrerer Jahre und der Arbeit an einem kompletten Romanmanuskript dar. Ich bin sehr froh, dass ich euch diese Erzählung präsentieren darf und all die Gedankenarbeit nicht umsonst gewesen ist.

Ich weiß leider, dass viele Leser*innen nicht viel Wert auf die Gedanken nach dem Lesen legen, sondern währenddessen unterhalten werden wollen. Dennoch bitte ich euch, die Geschichte auch insofern zu würdigen, dass sie viel mehr enthält, als man bei einem Lesedurchgang miterleben könnte!

Erschütterungen. Dann Stille.: Murder Me!at

Über die Erzählung “Murder Me!at” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Chaos ist nur dann wirklich schön, wenn es geplant ist, und in der Erzählung Murder Me!at in Erschütterungen. Dann Stille. herrscht das Chaos. Geplante Unplanbarkeit. Im Folgenden wird es Spoiler geben, also lest zuerst die Geschichte und dann diesen Eintrag!

Content Notes: Parasuizidalität, Tierleid, Gewalt

Sie haben Gewehre

Sie haben Gewehre war der Arbeitstitel des Projekts, das schließlich Murder Me!at heißen sollte. Der Arbeitstitel war mir zu simpel. Murder Me!at wiederum erinnert an den Ausspruch Meat Is Murder, wie in dem gleichnamigen Album von The Smiths oder von unzähligen Protestplakaten von Tierschützer*innen. Das Ausrufezeichen wiederum teilt den Titel in Murder Me! und Murder Meat. Wollte man unbedingt aus dem at noch etwas machen, könnte man es als Hinweis auf die vielen Orte lesen, an denen das Chaos die für alles verantwortliche Person dahinraffen könnte. Tatsächlich erfährt man ja nicht, ob die Person, die hinter dem Chaos steckt, nicht darin umgekommen ist, vielleicht sogar sehr früh.

Kampf für die Umwelt

Neben friedlichen Protesten gegen die Umweltzerstörung, die seit Jahrzehnten stattfinden und dennoch die Klimakrise nicht stoppen konnten, was wohlgemerkt nicht an den Kämpfenden lag, sondern an der Ignoranz der anderen, gibt es zahlreiche Fälle von radikaleren Umweltschutzansätzen und -organisationen. Menschen ketten sich an Bäume. Andere, wie die Leute von Sea Shepherd blockieren Walfänger oder versenken sogar Fischerboote, die in Schutzzonen agieren. Der Kampf ist wichtig und all diese Ansätze haben ihre Berechtigung.

Üblicherweise verbinden wir radikalere Aktionen eher mit dem Schutz für Tiere als mit einem Kampf um Pflanzen. Es gibt allerdings auch unter dem groben Oberbegriff Guerilla Gardening Ansätze, die sich um die Pflanzenwelt drehen. Guerilla Gardening fängt mit der illegalen Bepflanzung – eine kaputte Wortkombination, oder? – von öffentlichen Grünstreifen an, geht über die Bombardierung von leerstehenden Bauflächen mit Saatbomben (z.B. aus Glühbirnen gebaut, um Pflanzensamen zu verteilen, direkt mit Dünger dabei) und bis zum Aufschlagen von Autobahnasphalt, um dort Bäume in den Weg zu pflanzen. Diese letzte Aktionsart taucht auch in Murder Me!at auf.

Zerstörung als politische Aktion ist immer fragwürdig und doch zeigt sie Wirkung. Neben der Aufmerksamkeit für die Sache, die meist schon alles ist, worum es geht, kann die Wirkung von Zerstörungsaktionen auch negative Presse sein oder sogar das Kippen der öffentlichen Meinung in eine entgegengesetzte Richtung. Durch die Umweltschutzbewegung sowie politischen Terrorismus habe ich mich zu Murder Me!at inspirieren lassen. Dass die am Chaos schuldige Person in der Geschichte keineswegs Gutes tut oder auch nur am Wohl von Tieren interessiert zu sein scheint, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden. Aber sicher ist sicher: Es geht hier nicht um meine Sicht auf Umweltschutzorganisationen. Dieser Ausflug dient lediglich der Erklärung des Entstehungshintergrunds meiner Erzählung.

Geplante Unplanbarkeit

Zufall könnte eine Illusion sein und ist es in den allermeisten Fällen auch. Zufallsgeneratoren generieren nichts zufällig. Die meisten Geschehnisse, die wir als Zufall bezeichnen und verstehen, sind eigentlich End- oder Zwischenpunkte langer Kausalnetze (Netze und nicht Ketten, weil es zu viele Quer- und Zwischenverbindungen gibt, um sie noch als Kette bezeichnen zu können). Alles und jede*r funktioniert nach Regeln. An dieser Stelle könnte man rund um die tatsächliche (oder nur vermutete?) Zufälligkeit von Quantenereignissen argumentieren, aber so weit muss es hier nicht gehen. Was wir „zufällig“ nennen, ist meistens bloß etwas, das wir nicht überblicken oder verstehen können. Ein Zufallsgenerator ist für uns zufällig genug und das Verhalten von Tieren (besonders in Panik oder in ungewohnten Situationen) erscheint uns ebenfalls nicht vorhersehbar.

Die Person, die hinter den Anschlägen auf die namenlose Stadt in Murder Me!at steckt, lässt das Chaos genau auf diesen Elementen fußen: Zufallszeitzünder und das Verhalten von Tieren. Allerdings überlässt er es wiederum nicht dem Zufall, ob es zu chaotischen Szenen kommen wird oder nicht, denn er trainiert die Tiere, er bewaffnet sie, setzt sie unter Drogen oder macht sie zu laufenden Bomben, aber sobald sie losgelassen werden, kann niemand mehr kontrollieren, was geschehen wird.

Der Joker?

Eine bekannte Comicfigur, die gern mit scheinbarem Chaos spielt, ist der Joker von DC. Denkt man an Verfilmungen mit dem Joker in Kombination mit dem Chaos-Element, fällt einem zuallererst The Dark Knight ein. (Einen Blogeintrag über den neueren Film Joker, findet ihr hier: Joker: What we f*cking deserve) Besonders die Szene im Krankenhaus, wenn der Joker den Staatsanwalt Harvey Dent per Münze entscheiden lässt, ob er sich von ihm erschießen lässt oder nicht. Schaut man genau hin, hält der Joker den Revolver so, dass sein Finger den Schlagbolzen blockieren würde und kein Schuss abgefeuert werden könnte, selbst wenn der Staatsanwalt abdrücken würde. Scheinbares Chaos.

Der Absatz eben hat mehr mit Assoziation zu tun als mit der Entstehung von Murder Me!at. Vielleicht wurde ich unterbewusst vom Film inspiriert. Wer weiß so etwas schon.

Abrundung

Was wollte ich also mit Murder Me!at ausdrücken oder anregen? Einerseits ist die Geschichte eine obszöne parasuizidale Fantasie. Stellt man sich vor, wie die verantwortliche Person durch die Stadt läuft und einen Kick dabei hat, dass sie jeden Moment umkommen könnte, aber nicht so weit geht, sich selbst umzubringen, versteht man den Zustand, in dem manche Menschen (z.B. ich) gelegentlich durchs Leben gehen. Eine komplexe Version von Russisch Roulette. Andererseits ist Murder Me!at durchaus als Denkanregung zu verstehen. Affen aus Versuchslaboren, Drogenüberdosen, Gewalt und eine Presse, die sich nie lang genug für Dinge interessiert, sondern lediglich kurzfristig Aufmerksamkeit generieren möchte, um die Auflage zu steigern. So viel unnötiges Leid. Nur weil eine Person Lust darauf hatte und sowohl Mittel als auch den Willen, es umzusetzen. Das ist doch zum Kotzen. Kommt euch das bekannt vor? Vielleicht kann man ja etwas dagegen tun.

Erschütterungen. Dann Stille.: Joboffensive

Über die Kurzgeschichte “Joboffensive” in der Anthologie “Erschütterungen. Dann Stille.”

Zusammenarbeit oder -stöße mit dem Jobcenter sind selten angenehm. Das liegt in der Natur der Zuständigkeit dieser Organisation. Das ist ein Grund, warum die Erzählung Joboffensive aus Erschütterungen. Dann Stille. dort angesiedelt ist. Im Folgenden kommen Spoiler zur Geschichte vor!

Content Notes: Arbeitslosigkeit, Massenmord

Keine Unterstellung

Auch wenn das Jobcenter keinen sonderlich guten Ruf hat, soll die Erzählung Joboffensive keinesfalls einen realen Vorwurf gegen diese Institution oder gar die Mitarbeiter*innen beinhalten, sondern allerhöchstens einen Seitenhieb aufgrund bisheriger Erfahrungen austeilen und hauptsächlich eine dystopisch-satirische Fantasie darstellen. Obwohl manche Methoden des Jobcenters fragwürdig erscheinen mögen, erwarte ich keine Tötungsanlagen im Keller. Lest die Geschichte nicht als Tobsuchtsanfall eines wütenden Arbeitslosen, sondern als Kritik an herrschenden Gesellschaftsverhältnissen, dem Blick auf Produktivität und Menschenwert sowie am Kurs, den unsere Gesellschaft eingeschlagen hat! All das von allein zu verstehen, unterstelle ich meiner Leserschaft.

Rechtsfolgebelehrung

Jede*r mit etwas Erfahrung im Umgang mit dem Jobcenter und den Schreiben, die von dort eintrudeln, kennt das: Eine Mischung aus freundlichem und sachlichem Ton, der mit einer Drohung endet, gefolgt von angehängten Seiten, auf denen die rechtlichen Grundlagen der Drohung aufgeführt sind. Fehlt der Anhang, die Rechtsfolgebelehrung, darf die Androhung der Sanktion nicht umgesetzt werden, beziehungsweise die Drohung fehlt dann im Brief. Erfahrene Arbeitslosengeld-2-Empfänger*innen schauen zuallererst nach, ob es eine Rechtsfolgebelehrung gibt. Manche, habe ich gehört, werfen alle Schreiben ohne Belehrung sofort weg.

Die Sprache des Feindes

Schreiben des Jobcenters sind faszinierend zu lesen. Oben steht „Einladung“ und unten steht sinngemäß „wenn Sie nicht Folge leisten, bekommen Sie noch weniger Geld“. Oben steht „Vorschlag“ und unten steht „gehen Sie nicht auf den Vorschlag ein, gibt es eine Strafe“. Oben steht „Bitte um Mitwirkung“ und unten „wirkst du nicht mit, gibt’s Ärger“.

Diese Vermischung von Begriffen und Sätzen, die im Alltag als widersprüchlich gelesen werden würden, erinnerte mich mehr als einmal (wenn auch entfernt) an die Euphemismen des Nationalsozialismus: Endlösung, Euthanasie usw. Der Sprung ist zum Glück nicht klein, aber er ist machbar.

Gruppenveranstaltungen

Ähnliche Veranstaltungen wie jene in Joboffensive beschriebene habe ich selbst besucht. Ein Haufen völlig uninteressierter Teilnehmer*innen sitzt aufgrund einer Strafandrohung zusammen. Man kann es sich wie ein Klassenzimmer voller unwilliger Schüler*innen vorstellen, die weder Interesse haben, noch der Lehrkraft irgendetwas durchgehen lassen. Es muss furchtbar anstrengend sein, derartige Veranstaltungen zu leiten. Ich beneide niemanden um den Job.

In der Erzählung kommt kein*e Redner*in. Alles schläft ein.

Hannah Arendt

Eine weitere Inspirationsquelle für Joboffensive ist eine Aussage Hannah Arendts aus ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie konnte sich vorstellen, dass, nachdem der Nationalsozialismus den Massenmord derart fabrikmäßig durchgeführt hat, einmal also bereits die Grenze überschritten worden und ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, auch im Kapitalismus eine ähnliche Apparatur möglich sein könnte. In dem Falle, schreibt sie, seien allerdings nicht Ethnien oder politische Gegner*innen Ziele des Massenmords, sondern jene, die der Gesellschaft nichts nützten, beispielsweise die Arbeitslosen. All jene, die aus wirtschaftlicher Sicht überflüssig sind und nur Geld kosten. Auch das hat es im Dritten Reich bereits gegeben.

Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich zuletzt etwas von Hannah Arendt gelesen habe, aber diese Aussage ist geblieben. Sie ist geblieben, weil sie mir nie unrealistisch vorgekommen ist, so gern ich es auch gehabt hätte.

Scheinbare Widersprüchlichkeit

In abscheulichen Systemen wie dem Nationalsozialismus hat es auch immer Elemente gegeben, die geradezu albern wirken. In LTI (Lingua Tertii Imperii) schreibt Victor Klemperer folgende Passage: […] ich durfte dem Tierschutzverein für Katzen keinen Beitrag mehr zahlen, weil im „Deutschen Katzenwesen“ – wahrhaftig, so hieß jetzt das zum Parteiorgan gewordene Mitteilungsblatt des Vereins – kein Platz mehr war für artvergessene Kreatueren, die sich bei Juden aufhielten. Grund für solche Seltsamkeiten ist die komplette Bürokratisierung und Organisation sämtlicher Aspekte des Lebens.

Wenn in Joboffensive also von der umweltfreundlichen Politik der Regierung gesprochen wird, während nebenan Leichen verbrannt werden, und in diesem Rahmen die Minimierung der Abgase sowie die Nutzung der bei der Verbrennung entstehenden Hitze erwähnt werden, so unterstreicht dies einerseits die Gräuel der Taten und die Gewohnheit an diese, und folgt andererseits der Logik durchorganisierter Gewaltsysteme. Die innere Paradoxie und offenliegende Lächerlichkeit derart monströser Systeme hinterlässt alle nicht Indoktrinierten staunend.

Erschütterungen. Dann Stille.: Heimweg

Über die Kurzgeschichte “Heimweg” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wohin geht der Weg, wenn man getrieben ist und sucht, ohne zu wissen, wonach man suchen sollte, oder, schlimmer noch, wissend, dass das, was man sucht, nicht gefunden werden kann, nicht gefunden werden will? Manchmal verläuft man sich. Heimweg ist eine Kurzgeschichte aus Erschütterungen. Dann Stille.. Im Folgenden werde ich um Spoiler zur Geschichte und auch zu Sorck nicht herumkommen. Zweitere sind jedoch von geringer Wichtigkeit. Lest am besten erst die Erzählung und dann diesen Blogeintrag.

Verlaufen

Schon in Das Maurerdekolleté des Lebens drehte sich vieles um das Bild des Verlaufens, des Suchens nach etwas, ohne genau zu wissen, was es ist. Martin stolpert durch die Stadt, immer auf der Flucht vor der Leere in den eigenen vier Wänden und der Sehnsucht nach dem Alleinsein. Er hat kein Zuhause mehr, weil sie sein Zuhause gewesen ist und das Gefühl der Geborgenheit mitgenommen hat. Martin hat sich verlaufen, weil er nirgendwo mehr hingehört. Die Punkte auf der Landkarte, an denen er rastet und Zeit verbringt, könnten willkürlich andere sein. So fühlt es sich manchmal an, wenn man verlassen ist. Gerade jetzt erinnert es mich an den großartigen Song Spiral Wings von John Doran & Gnod auf dem Album Hubris. Besonders die Stelle, an der der Sprecher realisiert: I ain’t even f*cking moving, obwohl er ein Leben lang die eigenen Spuren zu verfolgen gesucht hatte.

Martin, Martin Sorck?

Martin, der Protagonist in der Kurzgeschichte Heimweg ist, obwohl es nicht als Nebengeschichte zu Sorck gedacht ist, auch nicht ganz zufällig mit dem gleichen Namen bedacht wie Martin Sorck. Die Probleme des nachnamenlosen Martin aus Heimweg sind artverwandt und teilweise sogar die gleichen wie jene Sorcks. Beide sind unterwegs, trinken zu viel und sind einsam. Doch die Partnerin macht den Unterschied. Dieser Martin hier vermisst seine ehemalige Partnerin, während Martin Sorck sich nach der möglicherweise zukünftigen Partnerin Eva sehnt.

Wollte man Heimweg ins Sorck-Universum – was für ein geiler Begriff, oder? – einfügen, so wäre die Geschichte vermutlich eine frühere Episode. Der Martin Sorck nach der Kreuzfahrt wäre sich vermutlich der Theatralik der Szene bewusst und würde sie ironisch betrachten, anstatt sie auf gleiche Weise zu durchleiden. Satzfetzen wie eine Nacht, über die man am besten nur sagt, dass es nieselte hätten allerdings auch zum Protagonisten der Kreuzfahrt gepasst.

Inspiration

Wie ich im Blogartikel Verlaufen über einige Ideen hinter Das Maurerdekolleté des Lebens bereits geschrieben habe, habe ich mich im Leben häufiger verlaufen. Nicht selten ist das auf ähnlichen (ähnlich besoffenen) Spaziergängen passiert, wie jenem in Heimweg. Dass ich schon mehr als einmal verliebt gewesen und verlassen worden bin und hartnäckig vermisst habe, kann man sich wohl denken. Manche Gedichte in Alte Milch zeugen sehr deutlich davon. So viel oder so wenig zum persönlichen Hintergrund.

Eine weitere Inspirationsquelle, von der ich allerdings nicht mehr 100 % sicher bin, ob sie wirklich dazu beigetragen oder mich bloß sehr berührt hat, ist das Video eines Auftritts von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD. Ob nun aus Interesse an meiner Arbeit oder warum auch immer, schaut es euch mal an! Mir hat es wehgetan, weil ich das grundsätzliche Gefühl gut nachempfinden konnte. Und auch in Heimweg ist nicht das Thema des Videos eingeflossen, sondern das Gefühl der kaum erträglichen Sehnsucht und der Hoffnung, die doch nichts als Schmerz bringt. Martin nutzt den Namen seiner ehemaligen Partnerin wie eine Beschwörungsformel, um Albträume fernzuhalten, und doch sind es die Träume, in denen sie auftaucht, die ihn am meisten mitnehmen.

Letzte Worte

An dieser Stelle würde ein Teil von mir gern einen Absatz über die Macht von Namen anfügen, geheimen Namen, mächtigen Namen und all das. Auch könnte ich an Albert Camus und Der Fremde erinnern, an die Szene, in der der Protagonist das einzige Mal im ganzen Roman laut wird und die Unfairness seines Schicksals beklagt, und wie diese Szene möglicherweise dem Ende von Heimweg ähnelt. Aber emotional gehört das nicht mehr hierhin, wäre es nicht mehr stimmig. Ich schließe an dieser Stelle, weil ich mich im Text verlaufen habe.

Erschütterungen. Dann Stille.: Caspars Schiffe

Über die Erzählung “Caspars Schiffe” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Ursprünglich ist Caspars Schiffe (genau wie Der Mitatmer) für die neue Anthologie von Nikas Erben entstanden. Es wurden allerdings zwei andere Geschichten ausgewählt für das Projekt, die etwas besser zum Thema passten. Hier soll es also um die Stierkatzen-Geschichte aus Erschütterungen. Dann Stille. gehen. Wie immer vorweg die Warnung an alle, die die Erzählung noch nicht gelesen haben: Es wird Spoiler geben!

Ein neuer Ansatz

Caspars Schiffe ist die erste Geschichte, die ich mit diesem speziellen Ansatz geschrieben habe, anfangs lediglich Oberflächenstrukturen und Farben auszuwählen. (Darauf bezog sich ein kurzes und etwas kryptisches Zitat im Zeitungsartikel über Erschütterungen. Dann Stille.) Zwar ist im Laufe mehrerer Überarbeitungsrunden noch einiges an Tiefe und Bedeutung hineingearbeitet worden, aber der Anfang war genau dieser: Auswahl von Oberflächenstrukturen und Farben.

Welche waren das? Ich dachte zuerst an schwarz-weiße Fliesen, glatt. Dieses unruhige Küchenaccessoire, das jede*n verrückt macht, der/die nur auf einfarbige Fliesen treten möchte/kann oder nur auf die Fugen dazwischen, weil die Fliesen zu klein sind dafür. Unruhiges Geflimmer unter den Füßen. Offensichtlich gilt das nicht für Katzen. Rauer Putz, Staub, glitschige Oberflächen, dicke Farbe auf grobem, splitterndem Holz. Dann Grüntöne, Grautöne. Ich hatte meine Augen geschlossen und in Gedanken Flächen berührt, die Caspar berühren sollte, und Farben gesehen, die Caspar sehen sollte. Das war der Ausgangspunkt.

Das Gemälde / Das Meer

Caspar hat seinen Namen vom Maler Caspar David Friedrich. Es wird erwähnt, dass er einem Bild entsprungen sei. Manche Farben, die ich beim Schreiben im Kopf hatte, passten zu Friedrichs Gemälden. Noch mehr aber passten die Einsamkeit, die Sehnsucht und die Freiheit des Katers dazu. Doch diese ganze Ebene, die sich schließlich auf die gesamte Geschichte ausgedehnt hat, war ursprünglich sekundär. Ein weiterer Farbauftrag. Die Erzählinstanz verwendet Anleihen an die Bilder von Caspar David Friedrich, um sowohl Caspars (der Katze) Vergangenheit bildhaft zu beschreiben als auch seine Gegenwart. Was die Stierkatze am Ende der Kanalisation in der Ferne sieht, wenn sie über ihre Herkunft sinniert, könnte direkt aus einem von Friedrichs Bildern stammen. Die Schiffe, deren Segel, der Nebel, die Wälder und die vereinzelten Figuren. Caspar David Friedrich spielte mit melancholischen Darstellungen und der Sehnsucht nach mehr, während die Stierkatze Caspar eben doch eine Katze ist und damit selbstzufrieden.

Die Katze und der Stier

Caspars Charakter und sein Verhalten sind angelehnt an Stiere und Katzen. So weit, so logisch. Er streicht entspannt umher, er rammt mit dem Kopf gegen die Wand wie ein Stier. Doch das ist zweitrangig. Die Stierkatze Caspar ist ganz besonders eines: unabhängig. Katzen kommen alleine zurecht, die meisten jedenfalls. Und auch jene, die es nicht tun, tun so als ob.

Dieser Charakterzug der Unabhängigkeit und auch der Selbstzufriedenheit bedingen das Verständnis der Freiheit dieser Figur. Anders als in Bad Luck II ist der Protagonist hier kein Mensch und muss sich nicht so verhalten. Er braucht niemanden und beinahe würde ich sagen wollen, dass er auch niemandem wehtut; das ist allerdings nur insofern wahr, als dass ihm die Mäuse entwischen und die Gefühle der Menschen, die ihn aufnehmen und die er wieder verlässt, nicht erwähnt werden.

Caspars Freiheit

Caspar ist frei, weil er ohne andere sein kann, aber sich dennoch entscheidet, mit ihnen zusammen zu sein. Er ist ein Einzelgänger, aber er schließt sich anderen an. Natürlich, er ist egoistisch und nimmt sich, was er braucht. Gleichzeitig gibt er aber auch. Der kleine Junge am Ende der Geschichte freut sich und ihm ist es egal, ob Caspar in einer der folgenden Nächte vielleicht die Wand in der Küche kaputt macht. Caspar ist sympathischer als Trip (in Bad Luck II), weil er eben wie eine Katze ist: unabhängig, untreu und doch zärtlich. Aber das ist nur unsere Perspektive.

Schmusetiger für die einen, Monster für die anderen

Harmlos ist Caspar nicht. Die Jagdlust, die Begierde nach Blut und Tod, die er spürt, kann man als Symbole der Freiheit lesen. Ein Mann allein im Wald mit einem Speer. Man möchte grunzen vor Euphorie. Aber für jeden stolzen Mörder gibt es eine Apokalypse am anderen Ende der Gleichung.

Wie oben gesagt, ist Caspar kein Mensch. Daher erlaubt man ihm mehr. Er ist aber dadurch auch näher an den Tieren, die er zu erlegen versucht.

Das hatte ich, ganz ehrlich gesagt, beim Schreiben nicht bedacht. Aus Sicht der Mäuse ist Caspar ein Monstrum. Er ist riesengroß und hat Spaß daran, sie zu töten und zu fressen. Zum Glück entkommen sie ihm. Ist seine Freiheit damit doch nicht besser als jene von Trip oder betrachten wir die Mäuse als Spielerei – vielleicht wie die unzähligen nebensächlichen „Lieb“schaften (d.h. Gelegenheitsficks) in der Männerliteratur? Treiben wir es nicht zu weit. Ich gerate schon ins Schwitzen dank meiner eigenen Kritik.

Die gefaltete Zeitung

Während Caspar durch die Kanalisation strotzt, fährt ein Schiffchen an ihm vorbei. Es ist aus Zeitungspapier gefaltet und zeigt einen Mann mit einem Buch in der Hand. Dann haut Caspar es um und es versinkt im Kot-Fluss. Es ist wohl naheliegend, an welches Bild ich gedacht habe, oder? An dieses hier: Zeitungsartikel

Leider war ich nicht ausgebufft genug, um das Foto des Zeitungsartikels zu Erschütterungen. Dann Stille. zu meinen und es entsprechend zu gestalten – obwohl es auch halbwegs passt. Auf dem vollständigen Bild stehe ich mit Buch in der Hand.

Jaja, die alte Autorenarroganz. Es reicht nicht, dass ich die Geschichte schreibe, ich muss mich auch noch selbst hineinschreiben. Wartet ab, bis ihr Der Spinner gelesen habt! Wenigstens ist es eine ironische Selbstdarstellung. Es passt außerdem hübsch zum Titel. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht und aus einem Zeitungsartikel über mich ein Schiffchen gebastelt und es dann – gab es da nicht so eine Szene in ES? – in den Gully segeln lassen. Immerhin eine Beschäftigung mit mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Ausgelöscht

Über “Ausgelöscht” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wie sehr kann man den eigenen Erinnerungen trauen? Wie sehr verlassen wir uns auf die Bestätigung anderer, um festzustellen, dass unsere Erinnerungen akkurat sind? Was wissen andere von uns? Wer weiß was über uns? Das sind einige der Fragen, die der Geschichte Ausgelöscht in Erschütterungen. Dann Stille. zugrunde liegen. Wer Ausgelöscht noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern im kommenden Text gewarnt!

Unüberlegte Worte

Beziehungen zerbrechen selten kurzfristig, aber sie enden an einem einzigen Punkt, mit einem einzigen Gespräch und manchmal mit Worten, die man bereut, nicht so meint, unüberlegt einander entgegenschleudert. Ein solches zerstrittenes Ende hat die Beziehung zwischen David und der erzählenden Instanz.

Klassisch hätte man „Ich-Erzähler“ gesagt, aber ich habe die Erzählung bewusst so gehalten, dass das Geschlecht der Erzählinstanz unerwähnt bleibt. Von meinen Testleser*innen weiß ich, dass es dazu führt, dass unterschiedliche Leser*innen das Geschlecht der Erzählinstanz unterschiedlich lesen. Spannend.

Jedenfalls endet die Beziehung der beiden im Streit und es fallen die Worte: Ich wünschte, es hätte dich niemals gegeben. Das ist natürlich eine unsaubere Formulierung. Gemeint ist eher, ich wünschte, ich hätte dich niemals gekannt, aber wer achtet auf Feinheiten, wenn gerade ein Lebensabschnitt zusammenstürzt? Offensichtlich David.

Beweise unserer Existenz

Stellen wir uns einen Höhlenmenschen vor. Er wird von einem Säbelzahntiger gefressen. 10 Jahre danach lebt niemand mehr, der ihn einmal gekannt hat. Die Beweise für seine Existenz sind verschwunden, von Knochenresten oder Handabdrücken, die nicht mehr individuell zugeordnet werden können, vielleicht abgesehen. Heutzutage sieht das anders aus. Es gibt noch immer Menschen, die von uns wissen und erzählen, gemeinsame Erlebnisse teilen und diese wiederum anderen mitteilen. Aber es gibt auch Geburtsurkunden, Versicherungen, Akten von Arbeitgebern und Ärzten und der Polizei. Es gibt Videoüberwachung an allen möglichen Orten und ständig tauchen wir auf. Es gibt private Fotos und Videos und das Internet, das angeblich niemals vergisst.

Was braucht es heutzutage, um eine handelsübliche menschliche Existenz vollends auszulöschen? Mindestens Explosionen, Brände, Diebstähle und Morde.

Zweifel

Es gibt etliche Versuche zur Beeinflussbarkeit des Menschen. Was die Moral angeht, ist das berühmteste wohl das Milgram Experiment. Doch es gibt auch Versuche, die gezeigt haben, dass Menschen (schneller als man meinen würde) an der eigenen Wahrnehmung zweifeln, sobald eine ausreichende Anzahl anderer Personen eine abweichende (und offensichtlich falsche) Antwort geben. Wir zweifeln eher an uns als an allen anderen.

Wie verhält sich das mit Erinnerungen? Es gibt wiederum Experimente mit Personen, denen Erinnerungen eingeredet werden und die später die feste Überzeugung haben, dass es die eigenen Erinnerungen seien (samt passenden Bildern im Kopf). Aus all dem wäre es ein logischer Schluss, dass man an den eigenen Erinnerungen zweifeln müsste, egal wie intensiv sie erscheinen, sobald 1. andere Personen diese in Frage stellen oder 2. niemand diese mehr bestätigen kann.

Wenn es keinen Beweis für die Existenz einer Person gibt, kann ich dann eine Beziehung mit ihr geführt haben?

Die Moral der Geschicht?

Wenn Fragen die Grundlage eines Textes für mich bilden, suche ich selber nach Antworten und tue es in ebendiesem Text. Schreibend (oder plottend) erforsche ich, wie weit ich die Fragen klären kann, doch meistens komme ich zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Für mich nehme ich zwei klare Punkte aus der Arbeit an Ausgelöscht mit:

  1. Unsere Innenwelt ist nicht so deutlich von der Außenwelt getrennt, wie es manchmal glauben.
  2. Jede Begegnung, und mag sie noch so schmerzhaft sein, formt uns als Personen, bringt uns in die Gegenwart und zu der Person, die wir sind. Tatsächlich formen uns ganz besonders diejenigen, die uns wehtun. Das rechtfertigt nicht das Leid, das sie uns zufügen, aber es gibt uns ein wenig Würde zurück, weil wir einen Nutzen daraus ziehen können. Wenn mich jemand fragt, was ich in meinem Leben (durch eine Zeitreise z.B.) ändern würde, sage ich: gar nichts. Alles brachte mich hierher. Ich bin nicht immer gerne an diesem Punkt, aber ich möchte auch nirgendwo sonst sein. Mir ist bewusst, dass es mehr als genug Menschen gibt, die die Zeit zurückdrehen und so manchem Übel ausweichen möchten. Das ist mehr als verständlich und ich würde das niemals verurteilen. Wir werden nicht immer stärker durch Dinge, die uns nicht umbringen.

Think (Just a Little Bit Harder)

Ausgelöscht soll zum Nachdenken animieren. Mir ist beinahe egal, worüber. Gedacht ist allerdings, dass man über die Wirkung anderer Personen aufs eigene Leben (sowie umgekehrt) und nebenbei über die Unmengen an Daten, die über jede*n erhoben werden, sinniert. Fühlt ihr euch wohl damit, dass es in Hunderten Firmen, zig Ämtern und wer weiß wie vielen privaten Archiven (welcher Form auch immer) Daten von euch gibt? Das ist eine ernst gemeinte Frage. Manchmal ist es mir egal und manchmal erschlägt mich der Gedanke. Für jemanden, der von möglichst vielen gelesen werden möchte, scheint das ziemlich paradox. Oder?

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Tod in Porto II

Über “Der Tod in Porto II: Abschied” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Der Tod in Porto II: Abschied in Erschütterungen. Dann Stille. hat, wie bereits im entsprechenden Blogeintrag erwähnt, inhaltlich nicht viel mit Der Tod in Porto I: Die Springer zu tun. Es handelt sich nicht um einen zweiten Teil, sondern um eine separate Geschichte, die den ungefähren Schauplatz und das Thema Tod teilen. Im Folgenden werden Spoiler nicht zu vermeiden sein. Ye Be Warned!

Content Notes: Tod, Trauer, Drogen

Dank

Die Veröffentlichung der Erzählung Der Tod in Porto II: Abschied wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht die Abdruckgenehmigung vom Suhrkamp Verlag erhalten hätte, die wiederum zum Teil durch die Sammlung auf meiner Ko-Fi-Seite bezahlt worden ist. Dem Verlag und noch mehr allen, die gespendet haben, um meine literarische Idee zu verwirklichen, sei an dieser Stelle mein herzlichster Dank ausgesprochen.

Hermann f**king Hesse

Auch wenn Hesse nicht am Anfang der Entstehung von Der Tod in Porto II: Abschied gestanden hat, waren seine Werke für meine literarische (und vielleicht auch persönliche) Entwicklung wichtig. Im Demian, im Steppenwolf und in Siddhartha konnte ich mich selbst wiederentdecken. Noch bevor ich Das Glasperlenspiel gelesen hatte, kannte ich einige der Gedichte im Anhang des Romans, die angeblich vom Protagonisten zurückgelassen worden sind. Eines der (zu Recht) bekanntesten (aus dem Werk und von Hesse allgemein) ist das Gedicht Stufen. Dieses Gedicht ist in Der Tod in Porto II: Abschied gelandet, weil es hineinpasst und weil ich einem Schriftsteller, der in einer wichtigen Phase meines Lebens als papiernen Freund für mich da war, eine Widmung schenken wollte (auch wenn ich ihn heute mit anderen Augen sehe).

Robinson Crusoe

Die wohl wichtigste Vertreterin (und Namensgeberin) der Gattung Robinsonade ist die Geschichte Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Als mir noch in der Ideenphase von Der Tod in Porto II: Abschied klar wurde, dass die Erzählung neben einer Andeutung von Endzeit-Drama auch einen nicht geringen Drall in Richtung Robinsonade aufweisen würde, habe ich diesen Aspekt mit einem inneren Grinsen etwas in der Namensgebung hervorgehoben. Nicht umsonst heißt der Protagonist Robin und seine vermisste Geliebte Frida. Woher Robin seinen Namen hat, ist wohl offensichtlich. Frida wiederum habe ich nach Robinson Crusoes treuen Begleiter Friday benannt, auch wenn Frida eine ganz andere Rolle hat und Friday nicht unproblematisch ist als Figur (oder es ist der Autor, der nicht unproblematisch ist, weil er diese Figur geschaffen hat). Frida jedenfalls ist die Frau, die fehlt, die bitter vermisst wird.

Traumfiguren

Während meines Urlaubs in Porto, den ich im Blogeintrag zu Der Tod in Porto I: Die Springer etwas umrissen habe, besuchte ich einige Museen. Alle Figuren, die in Robins Traum und in seinem Drogentrip auftauchen, sind reale Skulpturen, die mich beim Museumsbesuch fasziniert hatten. Die Figuren stammen alle vom portugiesischen Bildhauer Soares Dos Reis, der kurz in der Geschichte erwähnt wird.

Am faszinierendsten fand ich die Skulpturen Das Exil (O Desterrado, 1872), jene der Tochter des Condes de Almedina (Filha dos Condes de Almedina, 1882) von Dos Reis sowie die kindliche Version des Kain von Teixeira Lopes, der wiederum eine passable Anknüpfung an Hesse und seinen Demian versprach.

Die ohnehin vorhandene Vermischung verschiedener Werke verschiedener Künstler in der Geschichte rundete sich für mich durch die Verwendung dieser Skulpturen ab, die zwar den wenigsten Leser*innen bekannt sein werden, aber problemlos ergoogelt werden können. Auf diese Weise kann ich Schönes verbreiten.

Von all dem abgesehen, passte es für mich zusammen, dass ein Typ wie Robin auch durch die Museen gezogen wäre und starke Eindrücke mitgenommen hätte, wie er ja auch das Gedicht, das Frida ihm vorlesen hat, im Drogenrausch unterbewusst aufgreift und es endlich versteht, endlich auf eine Weise versteht, die ihm wirklich hilft.

Echte Elemente

Neben den Skulpturen von Soares Dos Reis enthält Der Tod in Porto II: Abschied noch weitere reale Elemente. Den Schauplatz, das heißt die Ruine der Villa am Hang zum Douro, gibt es wirklich. Auch die stillgelegte Eisenbahnbrücke Maria Pia ist genau dort angesiedelt. Sie wurde von Gustave Eiffel, ja, dem Typen vom Eiffelturm, entworfen, weswegen ich in frühen Versionen etliche Anspielungen darauf verbaut hatte, die ich jedoch zu großen Teilen in der Überarbeitung gestrichen habe.

Ebenfalls real existent sind die blauen Blumen am Hang gegenüber der Villa, was nicht nur optisch schön ist, sondern wegen der Bedeutung der blauen Blume in der Romantik (~ Sehnsucht) auch noch literarisch extrem praktisch ist. Steht man an der Straße unter dem Hang mit den Blumen, kann man (oder konnte man damals, vielleicht jetzt nicht mehr) das Graffiti mit der roten Katze sehen. Es ist nicht besonders gelungen, aber erschien mir wie Robin in der Erzählung sinnlos und daher interessant. Das Bild ist einfach da und sagt den allermeisten (vielleicht sogar allen) absolut gar nichts und dennoch hat jemand Zeit und Geld dafür investiert und riskiert, bestraft zu werden. Spannend, oder?

Drugs Are Bad, But Are They Really?

Unkontrollierter Drogenkonsum ist gefährlich und meistens schädlich. Keine Diskussion hier. Aber hätten Drogen keine Vorteile, gäbe es keine Medizin. Psychedelische Drogen sind meist körperlich harmlos und selten tödlich (selbst bei massiver Überdosierung). Dafür hegen sie andere Gefahren, beispielsweise Psychosen oder vermeidbare Unfälle. Robin rudert völlig high auf dem Douro herum. Er hätte gut und gerne draufgehen können. Von mir und Freund*innen kenne ich ähnliche Geschichten.

Was psychedelische Drogen allerdings auch tun und was ihre Hauptwirkung ist, ist das Unterbewusstsein zu öffnen beziehungsweise die Trennung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein zu lockern. Es ist ein bisschen so, als würde man träumen, während man wach ist. Neben vielen lustigen und schrecklichen Dingen, die passieren können, ist ein möglicher Effekt mancher dieser Drogen, dass man das eigene Dasein völlig neu betrachtet oder dass man Traumata neu durchlebt und plötzlich verarbeiten kann. Solche Effekte sind seltene Geschenke, und ein solches Geschenk erhält Robin.

Dass man sich Hilfe suchen sollte, bevor man alleine Pilze schmeißt, um psychische Probleme zu lösen, ist hoffentlich klar. Ich möchte keinesfalls zum Drogenkonsum aufrufen, auch wenn und weil ich selbst meine Erfahrungen gemacht habe und dem Thema eher liberal gegenüberstehe. Gesunde Entscheidungen sind hier ausschlaggebend. Da ich mein Zielpublikum nicht unbedingt bei Teenagern und schon gar nicht bei Kindern sehe, unterstelle ich genug geistige Reife, um diese Dinge zu verstehen.

So. Natürlich ist auch das Drogen-Element nicht fern von Hermann Hesse. Man denke nur an das magische Theater am Ende von Der Steppenwolf. Er durchzieht Der Tod in Porto II: Abschied geradezu.

Trauer

Bisher bin ich in meinem Leben weitestgehend von Todesfällen im näheren Umfeld verschont geblieben. Es hat einen Suizid gegeben vor etlichen Jahren, Verwandte sind gestorben, Bekannte auch. Aber nie hat das Schicksal nah genug eingeschlagen, um mich lange zu verletzen. Allerdings kenne ich Menschen, die mir nahestehen, die trauerten und in manchen Fällen nie aufgehört haben. Vielleicht drückt meine Geschichte im Kern aus, dass ich hoffe, dass es besser werden wird, oder dass ich von manchen weiß, dass es besser wird, irgendwann.

Gerade während der Pandemie habe ich viel über den Tod nachgedacht, häufig Angst gehabt und sehr sehr viel gehofft.

Ende

Fürs Buchensemble habe ich einen Artikel verfasst über die Beeinflussung vom Schreibprozess von Autor*innen durch die Werke anderer und bin unter anderem auf Hommagen in der Literatur eingegangen: Lesen und gelesen werden – Was macht das mit uns? Das Thema habe ich im Blogartikel Inspiration und Hommagen fortgeführt. Wie stehen meine Leser*innen zu dem Thema? Fällt euch so etwas auf? Verwendet Ihr es selbst, sofern Ihr schreibt? Mögt Ihr derartige Details oder stören sie euch eher?

Erschütterungen. Dann Stille.: Gen Pop

Über die Erzählung “Gen Pop” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Kaputter macht Kaputten kaputter. Willkommen in unserer Gesellschaft. Gen Pop ist ein kurzer Text über Selbst- und Fremdwahrnehmung oder eine Geschichte über menschliche Abgründe. Erschütterungen. Dann Stille. hat mehrmals solche Geschichten zu bieten. Im Folgenden wird gespoilert werden. Lest am besten zuerst den Text und dann diesen Blogeintrag.

Content Notes: Gefangenschaft, Vergewaltigung(sandrohung)

Alleine sind wir stark

Mike ist die Vorstufe des Ich-Erzählers. Er ist einer von uns. Mike ist arrogant, wenn wir dem Erzähler glauben dürfen, hält sich für besonders und alle anderen für weniger wert. Mike ist, was ich einmal gewesen bin. In meinem Teenager-Kopf hießen sie nicht „Gen Pop“, sondern „Statisten“. Alle waren Statisten in einem Film, der sich nur um mich drehte. Das ist nur einen Hauch entfernt von waschechtem Solipsismus.

Mit der Zeit habe ich gelernt, dass es nicht nur mir schlecht gehen kann, sondern auch anderen. Schmerz adelt, aber nicht für sich, sondern durch seine Auswirkungen, durch das verstärkte Mitgefühl, durch mehr Empathie und dadurch, dass wir daraus lernen. Schmerz adelt, wenn er uns nicht zu Monstern macht, sondern zu besseren Menschen. Besser, als wir vorher waren. Der Ich-Erzähler ist nicht geadelt, sondern pervertiert. Er sieht nicht sich selbst in Not in Mike, sondern eine Herausforderung seiner eigenen Sonderstellung. Vielleicht meint er sogar zu helfen, indem er Mike endgültig ruiniert.

Die Wahrheit stinkt

Jede Nische meines Verstandes war mein eigen, ich hatte keine Geheimnisse mehr vor mir. Ihr könnt euch den Gestank nicht vorstellen […]

Diesen klitzekleinen Part mag ich besonders. Der zweite Satz bezieht sich im Gesamtkontext auf den Kellerraum, in dem der Ich-Erzähler 14 Tage lang ohne Möglichkeit ordentlicher Körperhygiene verbracht hat. Zoomt man allerdings heran, wie ich es oben getan habe, schneidet nur diesen Part aus, bezieht sich der Gestank auf die Innenwelt des Sprechers. Er hat jede Ecke seiner Persönlichkeit mit offenen Augen gesehen, selbst die dreckigsten Stellen. Das könnte befreien, zerstört aber hauptsächlich.

Ein Gegenteil von Gen Pop

Es gibt mehrere mögliche Gefängnisexistenzen außerhalb der Normalbevölkerung. Eine Variante, eben die, um die es geht, ist Einzelhaft. Eine Strafe, die die wenigsten vertragen können. Der Mensch ist ein derart soziales Wesen, dass er lieber unter Mördern und Vergewaltigern leben möchte, als komplett allein zu sein. Schlimmer: als ohne Ablenkung mit sich selbst allein zu sein. 14 Tage Einzelhaft brechen wohl die meisten.

Man bedenke als nächstes, dass es amerikanische Hochsicherheitsgefängnisse gibt, in denen sämtliche Gefangenen 23 Stunden pro Tag allein in ihren Zellen verbringen, damit es nicht zu Zwischenfällen unter den Insassen kommt. Meiner Meinung nach ist das grausam. Allerdings findet das in einem Land statt, in dem der Gefängnisbetrieb immer mehr privatisiert wird, Firmen an Gefangenen (und deren Billigarbeit) verdienen und Gewalt jedweder Form in Gefängnissen an der Tagesordnung ist.

Ist euch mal aufgefallen, dass es inzwischen ein gängiges Motiv in amerikanischen Krimi-Serien ist, dass die Polizist*innen Verdächtigen nicht mit dem Gefängnis an sich, sondern mit Vergewaltigungen dort, drohen? Abartig.

US-amerikanische Kulturhegemonie

Warum kenne ich überhaupt Begriffe wie „Gen Pop“ und weiß besser über das Gefängniswesen der USA Bescheid als über das deutsche? Die Antwort liegt in den Sümpfen der Kulturhegemonie versteckt. Wir werden von Kindheit an mit amerikanischen Werten und Werken bombardiert: Musik, Filme, Serien, Spielzeug. Obwohl die Chinesen sich mehr und mehr in Hollywood einkaufen und japanische Animes einen Teil der Kindererziehung übernommen haben, gehört der Großteil des Einflusses noch immer den USA. Viele unserer Ideen stammen von dort. Wir sind niemals unbeeinflusst.

Mir ist bewusst, dass diese Gedanken recht weit entfernt liegen vom Kern der Geschichte, und dennoch lohnt es sich, gelegentlich darüber nachzudenken, wo die eigenen Ideen, Vokabeln und Vorstellungen herkommen und wieso sie in unseren Köpfen stecken. Globale Entwicklungen sind nicht immer global im Sinne einer von überall her stammenden Entwicklung, sondern zu häufig im Sinne einer Entwicklung, die von einem Ort (bewusst) ausgeht und sich dann weltweit verbreitet.