Erschütterungen. Dann Stille.: Der Mitatmer

Über die Kurzgeschichte “Der Mitatmer” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Der Mitatmer ist ursprünglich für eine andere Anthologie, nämlich die kommende von Nikas Erben, geschrieben worden, für die aber andere Geschichten ausgewählt worden sind. Das gibt den Leser*innen meines Erzählbandes Erschütterungen. Dann Stille. die Gelegenheit eine der unangenehmsten Kurzgeschichten zu lesen, die ich bisher verfasst habe. Wer Der Mitatmer noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern gewarnt.

Content Notes: Unfreiwillige (extreme) Nähe, Angst

Etwas atmet mit

Wenn man mit dem oder der Liebsten eng umschlungen im Bett liegt, nicht redet, aber einander atmen spürt und langsam den Rhythmus einander angleicht, ist das herrlich. Gleichermaßen stelle ich es mir absolut grausig vor, wenn jemand oder etwas so nahe vorm Gesicht ist, dass er oder es mitatmen kann. Das ist wohl der Grund dafür, dass dieses Bild in Erschütterungen. Dann Stille. in zwei verschiedenen Geschichten in unterschiedlicher Form vorkommt und sogar in Sorck kurz (und harmloser) auftauchte.

Im Roman Sorck ist es der unsichtbare alte Wolfsmann, der sich die Finger im Atem der Wanderer wärmt. In Schlammläufer taucht eine Figur auf, von der gesagt wird, dass diese „Ersticken atmet“, wenn sie vor einem steht. Und in Der Mitatmer ist diese spezielle Horrorvorstellung von totaler ungewollter Nähe der Kern der ganzen Geschichte.

Punkte im Blickfeld

Seit etwa einem Jahr sehe ich manchmal Punkte. Sie sind wie kleine Schwimmer, die jede*r mal hat, aber es handelt sich um eine winzige Stelle am Auge, die nicht so straff ist, wie sie sein sollte. Laut Augenarzt gibt es keinen Krankheitsbefund und außerdem würden die allermeisten Menschen, die so etwas haben, es gar nicht bemerken. Nur wer häufig auf Buchstaben schaut, bemerkt diese Flecken überhaupt. Das hat irgendwas mit dem Erkennen von Linien zu tun, wenn ich mich recht entsinne. Das jedenfalls war es, was mich zu Der Mitatmer inspiriert hat. Das große Was wäre wenn am Anfang jeder Geschichte. Was wäre, wenn diese Flecken die Form eines Gesichts hätten und es mich nicht mehr losließe. Ein herrlicher Albtraum.

Autounfälle

Autounfälle sowie Verletzungen und Todesfälle dabei sind leider nicht selten. Ich habe nur zwei kleine Unfälle in Autos miterlebt, wurde dafür als Kind einmal über den Haufen gefahren. Vermutlich hat das weiter nichts mit der Auflösung von Der Mitatmer zu tun, aber persönliche Details in solche Artikel einzubauen, könnte mich nahbarer erscheinen lassen. (Das war ein Witz, denke ich.)

Wie bin ich aber dann auf einen Autounfall als Auslöser des Angstdaseins der Ich-Erzählinstanz gekommen? Autos haben Fensterscheiben. Die Fahrer*innen sind getrennt von der Welt um sie herum, aber sie können sie dennoch sehen. Sie sollten sie sehen. Sind Autofahrer*innen unaufmerksam und schauen nicht richtig hin, kann es zu Unfällen kommen. Schauen sie genau im richtigen oder falschen Moment hin, sehen sie alles, was sie nicht sehen wollen.

Diese scheinbare Abgeschlossenheit von der Welt, der Beobachter-Status durch die große Frontscheibe und der unzweifelhafte Einfluss der Fahrer*innen auf die Welt sind eine spannende Kombination und lassen sich so in Der Mitatmer wiederfinden. Abgeschlossen, allein, beobachtend, sogar allein beobachtend und das alles wegen des negativen Einflusses, den die Ich-Erzählinstanz auf das Opfer hatte, und die Schuldgefühle, die daraus folgten.

Wer trägt Schuld?

Die Frage der Macht oder des Umgangs mit Macht oder des Umgangs mit den Auswirkungen von Macht ist eng verbunden mit der Frage nach Schuld. Das habe ich auch kurz angespielt in der Geschichte Schildbürger. Auto- und Busfahrer*innen haben eine enorme Macht, weil sie eine tonnenschwere Maschine schnell bewegen und damit jede ungeschützte Person in ihrem Weg ausradieren können. Viele fahren so, als gäbe es diese Möglichkeit nicht, als könnte ihnen nichts geschehen, beziehungsweise als könnten sie anderen nichts antun. Geschieht es dann doch, ist es eine Frage des Charakters, wie sie damit umgehen.

Wer seine Macht unterschätzt und sieht, was man mit ihr angerichtet hat, kann daran zerbrechen, daran wachsen oder einfach eiskalt die gleiche Person bleiben. Meine Figuren können nicht die gleichen bleiben, weil ich nicht der gleiche bleiben könnte.

An dieser Stelle könnte ich natürlich auf die viele Arten von Macht hinweisen, die man haben kann, ohne dass man jemals darüber nachdenkt. Gerade Männer wissen oft nicht, was sie anzurichten imstande sind und was sie tatsächlich anrichten. Man darf Der Mitatmer gerne entsprechend lesen, aber beim Schreiben hatte ich daran nicht gedacht. Beinahe ironisch, oder?

Erschütterungen. Dann Stille.: Am Fluss

Über die Kurzgeschichte “Am Fluss” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Erschütterungen. Dann Stille. ist seit 15.11.2020 veröffentlicht. 2020 hatte meine Pläne massiv durcheinander gewirbelt, aber immerhin diese Veröffentlichung konnte ich noch raushauen, bevor das Horrorjahr endete.

Dieser Blogeintrag ist der erste einer ganzen Reihe zum neuen Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Es wird zu jeder Geschichte einen Blogeintrag geben (und später vielleicht noch weitere zu bestimmten Details oder Aspekten). In einigen Blogeinträgen wird es Content Notes geben, wenn die Themen schwieriger sind. Ich folge der Reihenfolge der Geschichten im Buch, damit alle Leser*innen möglichst viel Zeit haben, um aufzuholen. Wir fangen also an mit Am Fluss, der ersten Story im Buch.

Content Notes: Tod, Trauma

Am Fluss

Am Fluss im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille. gehört zu den ganz wenigen Geschichten, die ich spontan und ohne Planung verfasst habe. Auf diese Weise schreibe ich extrem selten. Sie ist an einem Tag entstanden, an dem ich nicht wusste, woran ich arbeiten sollte, oder nicht an dem arbeiten wollte, woran ich sonst hätte arbeiten können. Textdokument auf und losgetippt. Im Folgenden erzähle ich von der Erzählung. Wer sie noch nicht gelesen hat, sei hiermit vor Spoilern gewarnt!

Das Ding mit den Katzen

Wie bin ich da bloß drauf gekommen? Ich weiß es nicht mehr. Ich mag Katzen und Katzen mögen mich. Aber es gibt viele Menschen, die Katzen mögen, und deshalb gibt es potenziell viele Leser*innen, die sich von einer Katzengeschichte gefangen nehmen lassen. Vielleicht war das ein Teil der Idee.

Eine Assoziation, die in Am Fluss auch kurz erwähnt wird, ist die mit alten Zeichentrickfilmen. Als Kind habe ich noch regelmäßig Tom & Jerry geschaut. Mehr als einmal gibt es darin Szenen, in denen Säcke mit Kätzchen in den Fluss geworfen werden. Manchmal überleben sie. Aber ich erinnere mich auch an eine Szene, in der die durchnässten Kätzchen am Himmelstor stehen und begrüßt werden. Natürlich wird es nicht gezeigt, aber es wird angedeutet, dass sie ersäuft worden sind. Die Vorstellung fand ich immer abstoßend und vielleicht spürt man das beim Lesen auch.

Kruppkes matschiges Gemüt

Mit der Figur Kruppke wollte ich es mal mit einem gröberen, aber dennoch freundlichen Charakter versuchen. Ich habe viele solcher Menschen kennengelernt. Nette Leute, aber mit einem Hang zur Gewalt, die außerdem relativ leicht manipulierbar sind. Man redet ihnen etwas ein und sie glauben, sie träfen eigenständige Entscheidungen. Der Erzähler kennt Kruppke schon seit der Kindheit und weiß um seine Manipulierbarkeit. Man könnte meinen, dass er Kruppke deshalb auf die Frau hetzen, ihn zum Täter machen würde. Aber die Gewalt geht niemals von Kruppke aus, sondern zuerst von der Frau (den Katzen gegenüber) und dann vom Erzähler der Frau gegenüber. Liegt es daran, dass der Erzähler seinen alten Kumpel nicht mit hineinziehen wollte in die Angelegenheit? Ich denke nicht. Der Erzähler hat einige fiese Züge, die in einem derart kurzen Text natürlich nur angedeutet werden konnten, beispielsweise in seinem Wissen, dass Kruppke manipulierbar und dass er zur Gewalt fähig ist. Man kann schließen, dass er dieses Wissen schon getestet hat.

Der Erzähler hat schlicht die Kontrolle über sich verloren auf der Brücke. Oder? Nicht ganz. Was er tut, ist ein aus Wut entstandener, aber sehr kontrollierter Akt: er nähert sich, spricht mit der Frau und setzt den Einfall mit dem Anorak um. Er hätte auch einfach zuschlagen können.

Wiederkehrendes Trauma / repetitive Hölle

Das Prinzip eines Kreislaufs oder vielmehr einer Spirale innerhalb von Geschichten gefällt mir. Filme wie Predestination faszinieren mich. Was ich meine, sind Geschichten, deren Ende am Anfang anknüpft, einen Kreislauf bilden, oder deren Ende sogar den Anfang bedingt. Das letzte Bild von Am Fluss ist das Bild aus der Kindheitserinnerung des Erzählers, die seine Gefühle und seine Tat vorherbestimmt haben. Es handelt sich um ein anderes Kind, aber man kann schließen, dass es sich um einen Kreislauf (oder eher eine Spirale) handelt und sich das Trauma und die Rache bis in alle Zeit wiederholen wird. Das wird noch gestützt dadurch, dass der Erzähler selbst das Kind hört. Vielleicht hat es in seiner Kindheit ebenfalls einen Zuhörer gegeben. Er muss keineswegs der Start der Spirale sein. Kann man die Spirale durchbrechen? An Opfer (dem Kind) ist es nicht gelegen, dass es später zum Täter wird, sondern an Täter*in Nr. 1 (der Frau auf der Brücke). Das Problem einer solchen Spirale ist, dass sie nur von außen durchbrochen werden kann.

Stilfragen

Spricht der Erzähler mit Kruppke, klingt er ganz anders, als wenn er der/dem Leser*in erzählt. Allgemein klingt die Sprache, finde ich, alltagsnäher in dieser Geschichte als in vielen anderen. Am Fluss ist sprachlich kein fein gedrechseltes Himmelbett, sondern ein Ikea-Bettgestell mit günstiger Matratze. Man liegt bequem und es passt zu den restlichen Verhältnissen.

Geschuldet ist der Sprachstil einerseits der spontanen Entstehung der Rohfassung und andererseits der Tatsache, dass der Erzähler ein (vom Trauma abgesehen) ganz normaler Typ sein sollte. Er ist zwar clever, aber nicht besonders intelligent, sonst hätte er bessere Lösungen gefunden als einen möglichen Mordversuch (und hätte wohl auch seinem Kumpel nicht erzählt, dass er vor Ort gewesen ist).

Dass ich keine Sorck’schen Monsterformulierungen mehr schaffen will in nächster Zeit, habe ich bereits mehrmals an verschiedenen Stellen erwähnt. Es passt nicht mehr zu meiner Ansicht über gute Literatur oder zu der Person, die ich inzwischen geworden bin. Manche Geschichten sind komplexer (formuliert) und andere simpler. Ich muss nicht tagelang Fremdwörterbücher durchforsten, um gute Geschichten zu schreiben. Ich schreibe sie mit dem passendsten Vokabular, nicht mit dem verdrehtesten – doch wenn beides zusammenfällt, dann ist das eben so.

Kurzprosa

Leseempfehlungen und Gedanken zum Thema Kurzprosa.

Mit dem Blogeintrag über Derrière la Porte von Michael Leuchtenberger habe ich bislang nur einen einzigen Text über Kurzgeschichten und kürzere Erzählungen veröffentlicht. Das sollte sich angesichts der Veröffentlichung meines eigenen Erzählbandes Erschütterungen. Dann Stille. ändern. Es folgt also ein Text über Kurzprosa, die mich bewegt, beeindruckt, inspiriert oder mir nur gefallen hat.

Definitionen

Es gibt Erzählungen, die lang genug sind, um ein eigenes Buch zu ergeben. Hesse hat beispielsweise ein paar gute davon verfasst. Darum soll es hier aber nicht gehen. In diesem Blogeintrag geht es um Texte, die grob ein Maximum von 50 Buchseiten erreichen. Die meisten sind erheblich kürzer.

Die Sortierung wird ebenfalls eher grob gestaltet sein. Etwas Ordnung muss bekanntlich sein. Nehmt alle erwähnten Geschichten gerne als Leseempfehlung. Auf geht es!

Nach dem Krieg

Für Kurzgeschichten und Kurzprosa allgemein war Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ein fruchtbares Pflaster. Schicksale konnten nicht mehr geteilt werden, Erfahrungen waren nicht mehr erzählbar, nicht so kurz danach. Kurzgeschichten geben Abrisse wieder, stellen sie in den Raum und deuten ein ganzes Schicksal dahinter und drumherum an. Eine gute Kurzgeschichte ist wie ein Schlüsselloch, geradezu winzig, aber es öffnet einen Raum, lässt uns viel mehr entdecken, schenkt uns eine neue Perspektive.

Wolfgang Borchert

Für mich gab und gibt es in deutscher Sprache keine besseren Kurzgeschichten als die wenigen von Wolfgang Borchert geschriebenen. Das Theaterstück Draußen vor der Tür ist ebenfalls eine klare Empfehlung. Der Autor verarbeitet Erfahrungen aus dem Krieg und besonders jene der Heimkehrer, die kein Zuhause mehr haben, in das sie zurückkehren können. Armut, Trauma und das Gefühl, nicht mehr dazu zu gehören, durchziehen das Werk. Leider ist Borchert nur 26 Jahre alt geworden. Sein Tod war ein Verlust für die deutsche Literatur. Da man alle von Borchert verfassten Werke in ein einziges Buch packen kann, sage ich einfach: Kauft euch dieses Buch (in meinem Fall sind es 2 dünne Bücher) und lest es!

Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen

Die Erinnerung an einen Schulausflug, verwoben mit dem Wissen, was aus den Mädchen geworden ist im Dritten Reich, was aus den Jungs, die in sie verliebt waren und aus Lehrerinnen und Lehrern geworden ist. Man schwingt von sanften Betrachtungen junger Freund- und Liebschaften zu Deportationen und Verrat, von Herzlichkeit zu Kälte, von Liebe zu Hass, von frischem jugendlichen Leben zu so viel Tod.

Anna Seghers war rechtzeitig die Flucht geglückt und konnte aus dem Exil (Schweiz, Frankreich, schließlich Mexiko) arbeiten. Ein derart naher Blick aus solcher Entfernung ist mehr als faszinierend.

Ingeborg Bachmann

Intelligenz und Gefühl. Das sind die ersten Wörter, die mir einfallen, wenn ich an Bachmanns Werk denke. Ihre Lyrik und Essays (allen voran Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar) sind eben so empfehlenswert wie ihre Kurzprosa. Wieder geht es häufig um die Nachbearbeitung der Zeit des Dritten Reichs. Doch wieder wirkt die Perspektive anders als bei Borchert und Seghers. Wer sich in Sachen Kurzprosa und/oder deutschsprachiger Literatur allgemein (weiter)bilden möchte, kommt um Ingeborg Bachmann nicht herum. Kauft euch einen Sammelband und lest! Lest!

Englischsprachiger Raum

Thematisch, stilistisch und eigentlich in jedweder Hinsicht anders sind die drei Autoren, die mir aus dem englischsprachigen Raum am meisten mitgegeben haben. Zeitlich befinden wir uns mit den dreien einige Jahrzehnte später als bei den drei Autor*innen aus dem vorherigen Segment. Legen wir los!

Hunter S. Thompson

Wenn ich jemandem Hunter S. Thompson erklären will, weise ich auf die Verfilmung von Fear and Loathing in Las Vegas hin. Nicht nur ist die Umsetzung sehr nah an der Buchvorlage dran, Johnny Depp verkörpert Raoul Duke, das Alter Ego von Thompson, perfekt. Depp und Thompson waren Freunde. Vergleicht man Interview-Aufnahmen des Autors mit der Darstellung im Film, ist die Ähnlichkeit geradezu beunruhigend.

Hunter S. Thompson war wahnsinnig, ständig high, lieferte sich Feuergefechte mit Nachbarn, während er ein Interview über den American Dream gab. Seine Kurzprosa besteht weniger aus reiner Fiktion als aus Essays. Die große Haifischjagd wäre ein guter Einstieg. Nie weiß man ganz genau, wie viel Wahrheit in den Berichten steckt, aber man traut ihm alles zu (und einiges ist offensichtlich halluziniert). Thompson begleitet Politiker auf Wahlkampftouren und beschreibt, wie besoffen und zugedröhnt er währenddessen ist. Wer keine Lust auf Drogenstorys hat, ist bei Thompson eindeutig falsch. Seine Texte sind irre Trips, chaotisch, aber dennoch intelligent, voller interessanter und kritischer Beobachtungen und stets auf der Suche nach Wahrheit. Hunter S. Thompson war zuallererst Journalist und versuchte, das Herz der USA zu finden und darzustellen.

Charles Bukowski

Wenig könnte Bukowski egaler sein als das Herz der USA. Wo die nächste Flasche Whiskey herkommt, ist wichtiger. Während Thompson high und aufgedreht ist, ist Bukowski wütend und müde. Er schuftet und trinkt und trinkt noch etwas mehr. Wir machen einen Schritt hinab, was Stimmungsfarbe und Action angeht.

Die Tristesse des hässlichen Säufers, der mit Schlachthausarbeitern und Arbeitslosen abhängt, weil er selbst dazu gehört, vermischt mit Galgenhumor, mag ich. Einerseits glaube ich mich manchmal selbst darin zu sehen und andererseits wirken Bukowskis Werke ehrlich und ungefiltert. Bei aller Liebe zu „großer Kunst“ (was auch immer das sein soll) sind mir Dreck, Ehrlichkeit und Direktheit doch immer lieb gewesen.

Irvine Welsh

Meine erste Assoziation zu Irvine Welsh: Auf dem Rückweg von der Uni, mittags in der S-Bahn habe ich eine seiner Geschichten gelesen und dann abgebrochen, als mir die Tränen gekommen sind. Hätte ich weitergelesen, wäre es peinlich geworden.

Irvine Welsh tut weh. Wenn Bukowski von Thompson aus gesehehen einen Schritt in Richtung Dunkelheit bedeutet, schreiten wir mit Welsh weiter und weiter und weiter. Viele werden von Irvine Welsh eher die Verfilmungen kennen: Trainspotting, Filth usw. Diese Filme sind schon gute Indikatoren, wohin die literarische Reise mit Irvine Welsh geht. Drogensucht, Depression, die tiefsten Abgründe des Menschen, Randexistenzen, Verzweiflung. Dort treibt er sich herum. Manchmal muss Literatur eben doch die Axt für das gefrorene Meer in uns sein, oder? Sie darf jedenfalls.

Anders, brillant

Ein bisschen Weltliteratur fehlt natürlich noch. Ein paar Beispiele werden noch folgen, aber bei weitem nicht alles Erwähnenswerte kann erwähnt werden.

Kafka

Klar. Kafka hat keinen seiner Romane fertiggestellt. Allein schon deshalb muss man ihn im Rahmen von Kurzprosa-Schwärmerei erwähnen. Wer meine Texte kennt, wird vielleicht Grundgefühl, Farbe und Stil ähnlich finden wie bei Kafka, obwohl ein Vergleich für mich schlecht ausfallen würde. Figuren, die suchen, ohne jemals zu finden. Rätsel, die nicht gelöst werden können. Geschichten nicht als Geschichten, sondern als Symbole. Kafka zu empfehlen, ist schon fast kitschig, so selbstverständlich sollte das sein. Also weiter.

Jorge Luis Borges

Einer der Autor*innen mit dem größten Einfluss auf meine Gedankenwelt ist Jorge Luis Borges. Er ist kein Herzensbrecher und Action gibt es auch wenig. Borges liebt Bücher und Ideen. Mit ruhiger Stimme konstruiert er Gedankenpaläste, die auf philosophischen Ideen fußen. Daher wundert es kaum, dass neben den Kurzgeschichten (allen voran die Bände Fiktionen und Das Aleph) Borges besonders für seine Essays berühmt ist. Es ist hochgradig faszinierend, wie er verschiedenste Themen zusammenbringt. Man kommt nicht umhin, immer etwas zu lernen (und meistens nicht das, was man erwartet hätte). Wer Freude hat an gedanklichen Experimenten und Hirnverdrehungen, ist bei Jorge Luis Borges eindeutig richtig. Lest alles von ihm!

Hermann Burger: Diabelli, Prestidigitateur

Der Meister der schwierigen Satzkonstruktionen. Burger hat einige gute Erzählungen geschrieben, aber Diabelli bleibt mein Favorit. Diabelli ist Prestidigitateur (Schnellfingerkünstler, Bühnenmagier) und schreibt seinem Gönner einen Brief. Er erklärt die Tricks und Kniffe der Zauberei, besonders die Technik der Ablenkung, um den Zaubertrick zu vertuschen. Gleichzeitig setzt Burger das Programm perfekt um. Er beschreibt detailliert die Tricks Diabellis, während er sie so ausdrückt und so gut ablenkt, dass man ihnen dennoch kaum oder gar nicht folgen kann. Das Programm ist deutlich, wird sogar erklärt und doch zaubert Burger durch seinen Diabelli im Kopf der Leser*innen herum, dass einem schwindlig wird.

Noch mehr

Es gibt von Dürrenmatt eine Sammlung mit nicht fertiggestellten Stoffen und Gedanken dazu unter dem Titel Labyrinth: Stoffe I-III. Darin findet sich die Geschichte Der Winterkrieg in Tibet. Ich habe eine sehr ähnliche Geschichte einmal geträumt, aber weiß nicht mehr, ob es vor oder nach der Lektüre gewesen ist. Borges hätte das gefallen. Hat der Traum die Lektüre beeinflusst oder die Lektüre den Traum? Jedenfalls denke ich immer mal wieder an die Geschichte.

Daniel Kehlmann ist Romancier. Er kann auch Essays und Kurzprosa schreiben, aber sein Talent liegt eher in längerer Prosa. Im Rahmen der Lektüre sämtlicher Werke von Kehlmann (ja, ich hatte so eine Phase) habe ich auch seine Erzählungen gelesen. Manche nahmen mich gefangen. In der Zeit sogar genug, um Kehlmann im Romanmanuskript zu erwähnen. Das ist das gleiche Manuskript, das schließlich zur Erzählung Der Spinner in Erschütterungen. Dann Stille. geworden ist. Ich habe den Part nicht gestrichen, vielleicht aus Nostalgie. Deshalb ist er hier erwähnt.

Fazit?

Kurzprosa hat den Vorzug, dass sie kurz ist, und den Nachteil, dass sie kurz ist. Da Kurzprosa dennoch nicht weniger tief sein darf als Romane, muss getrickst werden. Der Trick besteht darin, dass eine größere Leistung von den Leser*innen erbracht und dass diese Leistung herausgekitzelt werden muss, ohne dass es bemerkt wird. Man beschreibt einen Baum und lässt einen Wald im Kopf entstehen. Man beschreibt eine einzelne Lebensszene und lässt ein Schicksal im Kopf erwachsen. Das ist die große Kunst von Kurzgeschichten. Autor*innen wie Borchert benötigen dafür nur eine einzige Buchseite. Das wird niemals aufhören, mich zu faszinieren.

Auch etwas längere Kurzprosa muss auf ähnliche Weise tricksen, Andeutungen verbauen, mit Assoziationen arbeiten wie Lyrik und Gefühl mit dem richtigen Ausdruck verbinden, um mehr darzustellen als beschrieben wird. Ob mir das gelungen ist, weiß ich nicht.

Alte Akten und wilde Spekulationen

Interpretation der Kurzgeschichte “Das Archiv” aus dem Buch “Derrière La Porte” von Michael Leuchtenberger.

Neulich habe ich die Sammlung von Kurzerzählungen Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger rezensiert. Hier geht es zum Beitrag: Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte. Heute möchte ich eine Interpretationsmöglichkeit von Das Archiv, das es übrigens auch einzeln zu kaufen gibt, auf euch loslassen. Ohne Spoiler ist das völlig unmöglich. Wer das Buch also noch nicht gelesen hat, es aber noch vorhat, sollte sich den Eintrag für später speichern und ab hier nicht weiterlesen.

Ein Angestellter allein in einem alten und vergessenen Keller voller Akten, die er zu sichten hat. Mich erinnerte das an eine Therapie. Aber bauen wir es anders auf. Es gibt eine neue Chefin, die aufräumen möchte. Im Laufe des Aufräumprozesses wird ein Schlüssel gefunden zu einer Tür, die ebenfalls erst gefunden werden muss. Hinter alten Rollschränken mit Akten wird diese Tür gefunden und dahinter befindet sich ein weiterer Raum mit Kisten, Zeitschriften und Akten, noch älter als jene im Vorraum. Die Chefin gibt die Anweisung, die alten Akten zu sichten für eine Historie des Amtes und gibt den zusätzlichen Auftrag, nach Arbeiten über Architektur zu fahnden. Nun könnte man die Chefin als Therapeutin verstehen und die Akten als Erinnerungen. Der Protagonist, die Person in Therapie, steigt in den dunklen Keller hinab seiner Erinnerungen hinab. Zunächst sind jedoch die Akten in den Rollschränken im Weg. Mühsam müssen sie beiseite geschafft werden. Nebenbei wird erwähnt, dass die Rollschränke dazu neigen, von allein in Bewegung zu geraten. Mindestens einmal wurde der Protagonist bereits von ihnen beinahe eingesperrt. Es ist fast so, als gäbe es eine Kraft, die sich dagegen wehrt, dass die alten Akten/Erinnerungen wieder zum Vorschein kommen. Ein Verdrängungsmechanismus lässt sich vermuten. Im versteckten Hinterzimmer, das man als Un(ter)bewusstsein verstehen kann oder als Ort verdrängter Geschehnisse, wird dem Protagonisten schwindlig. Die Luft ist abgestanden und in der Ecke wuchert etwas Dunkles. Mehrmals wird er ohnmächtig. Während er mehr und mehr Zeit dort unten verbringt und vergessenes Wissen durcharbeitet (im Zusammenhang mit alten Zeitschriften wird dies explizit so genannt), breitet sich die dunkle Masse aus. Schließlich bekommt sie Struktur. Pflanzenartig und doch beweglicher, mit Auswüchsen, die in den Raum ragen und zugreifen wollen. Der Protagonist will fliehen, als er es bemerkt, aber ist längst im Keller eingeschlossen worden. Er ist gefangen in alten Erinnerungen. Dann versucht er, die Tür zum dunklen Raum mit dem verdrängten Wissen wieder zu schließen, aber auch dafür ist es zu spät. Die Auswüchse haben den Raum eingenommen und die Tür bereits durchschritten. Nach kurzer Flucht findet sich die Figur schließlich auf dem Boden, auf Knie und Hände gestützt. Die dunklen Auswüchse haben Arme und Beine umschlossen, er sinkt mit den Händen im Boden ein, während er voller Furcht und Ekel bemerkt, dass etwas seinen Rücken berührt. Man kann sich kaum eine unangenehmere und wehrlosere Stellung vorstellen, als auf allen Vieren festgebunden zu sein. Die so lange weggesperrten und nun wieder befreiten Erinnerungen nehmen ihn völlig ein.

Der Protagonist verliert das Bewusstsein und erwacht erst wieder, als seine Kolleginnen und Kollegen ihn finden, aber ohne die dunklen Auswüchse. Fortan bleibt der Geruch des Raums und der Auswüchse ein Teil seines Lebens.

Diese Gruselgeschichte kann meines Erachtens nach als Retraumatisierung gelesen werden. Verdrängte Erinnerungen werden im Laufe einer Therapie heraufbefördert und müssen nun in mühevoller Arbeit verdaut werden. Man weiß jetzt, was sich Dunkles im Unterbewusstsein verborgen hielt und drohte, aber damit klarzukommen, ist eine Lebensaufgabe.

Verfasst ist Das Archiv in Briefform und zwar einem Brief an eine Therapeutin, die mit dem Protagonisten fortan arbeiten soll. Wenn man will, könnte man also noch einen Schritt weitergehen und die Retraumatisierung samt Folgeschäden nicht als gut durchdachten Schritt einer ausgebildeten Therapeutin verstehen, sondern als Resultat laienhaften Herumdokterns durch die Chefin, die in diesem Szenario bloß jemand wäre, der es gut meint und damit Schaden anrichtet.

Ich weiß nicht, ob Michael Leuchtenberger diese Lesart beabsichtigt oder auch nur selbst bemerkt hat, aber ich finde sie hochinteressant. Sollte es keine Absicht gewesen sein, macht es das nur noch spannender, denn was die Leserschaft in Geschichten finden kann, das man als Autor*in selbst nicht sieht, ist enorm. Genau um derartige Lesarten zuzulassen, plädiere ich immer für relativ offene Geschichten. Zu viele eindeutige Erklärungen können Interpretationsfreiräume einschränken und somit auch die Freude an der Geschichte.

Zum Abschluss möchte ich mal wieder ganz deutlich darauf hinweisen, dass Figuren und Erzähler nicht die Autor*innen sind. Ich habe hier eine Geschichte analysiert und nicht den Verfasser, würde mir also niemals anmaßen, durch diese wirre Interpretation auf mögliche Traumata des Autors zu schließen. Ob die Lesart ein Kunstgriff, ein Zufall, die unbewusste Verarbeitung eines Geschehnisses (eines selbst erlebten oder fremden) oder mehr über mich als über ihn aussagt (und in dem Fall: was es über mich aussagt), ist völlig offen.

Podcast: Das Maurerdekolleté des Lebens

Oder:

https://laurasattelmair.podigee.io/7-maurerdekolletedeslebens

Vor Kurzem wurde die Erzählung Das Maurerdekolleté des Todes im Podcast Sieerzählt von Laura Sattelmair vorgestellt. Nun gibt es auch die Schwestererzählung Das Maurerdekolleté des Lebens dort zu hören. Wie bereits im Eintrag zur ersten Geschichte erwähnt, handelte es sich eigentlich um die als zweites geschriebene, während Das Maurerdekolleté des Lebens die erste Erzählung war. Im Folgenden wird es etliche Spoiler geben, also empfehle ich, zuerst den Podcast zu hören und erst dann weiterzulesen. Sieerzählt findet man außerdem auf Spotify, Soundcloud und iTunes.

Nicht erst seit einer entsprechenden Vorlesungsreihe während des Komparatistik-Studiums bin ich fasziniert von Labyrinthen in Erzählungen sowie labyrinthischen Konstruktionen von Erzählungen selbst. Neben Jorge Luis Borges fällt dem interessierten Leser bei diesem Thema natürlich sofort Kafka ein. Dass ich mich ein wenig an Zweiterem orientiert habe, kann ich wohl kaum abstreiten und sehe auch keinen Grund dazu. Spätestens mit dem Ladenbesitzer K. wird es wohl offensichtlich. Mein erster Gedanke zur Namensgebung des Ladenbesitzers war übrigens: Name einer Figur aus Der Prozess. Der zweite Gedanke: Kafka benannte seine Figuren im Grunde alle nach sich selbst. Genommen habe ich K. als Namen trotz des kürzeren Weges von der Bezeichnung zum Ursprung dennoch, obwohl dieser Aspekt dadurch wenig labyrinthisch ist.

Der Titel dieser Erzählung machte mir einige Mühe. Er sollte aus dem Umfeld der Baustellenthematik stammen und idealerweise mehrdeutig sein. Also probierte ich viel herum, spielte mit dem Wort unbefugt (beziehungsweise befugt) in etlichen Varianten (beispielsweise Nur für Befugte in Anlehnung an das Schild Nur für Verrückte aus Hesses Der Steppenwolf), stolperte über einige andere Möglichkeiten wie Nicht unter schwebende Last treten (was mich an den Titanen Atlas erinnerte) oder Ausweg Tag und Nacht freihalten, aber fand an all dem wenig Freude. Am Ende dachte ich mir schlicht, dass Theo ziemlich am Arsch ist. Das führte zum Maurerdekolleté des Lebens (auch in Anlehnung an den Ausdruck Am Arsch der Welt, da Theo eben auch durch die Eingeweide der Baustellenwelt kriecht).

Auslöser der langen Gedankenkette, die schließlich in Das Maurerdekolleté des Lebens uferte, war eine Baustelle, die direkt vor meiner Tür dafür sorgte, dass eine neue Ampelschaltung implementiert wurde, die wiederum an verdreifachten Wartezeiten schuld war. Innerhalb des Entstehungsjahres war dies die vierte Baustelle dort. Vermutlich war also ein Teil von mir einfach genervt und wollte meckern. Das ist natürlich nicht alles. Ein wichtiges Element der Geschichte ist die Orientierung und die Suche nach dem richtigen Weg. Mein eigener Orientierungssinn ist so gut wie nicht existent und gerade betrunken habe ich mich in meinem Leben bereits unzählige Male verlaufen. In einem Fall landete ich nach der Entscheidung für eine Abkürzung etwa 45 Minuten später wieder am Startpunkt der vermeintlichen Abkürzung. Ich habe also passende Erfahrungen aus erster Hand. Besonders Theos Pausen, um seine Abweichungen vom Weg zu registrieren, was ihm zunehmend schwerfällt, können über meine Erinnerungen hinaus als Rückblick aufs Leben und auf begangene Fehler gelesen werden. Also im Sinne von: was muss ich ändern und welche Fehler darf ich nicht nochmal begehen, um wieder auf die richtige Spur zu kommen? Oder auch: Welche Schritte in meinem Leben würde ich im Nachhinein ändern, wenn ich es könnte?

Vorhanden war also das Bild einer Baustelle, die viele Umleitungen mit sich bringt und den Protagonisten nicht dort ankommen lässt, wo er hin möchte. Sein Ziel war für mich von vornherein zweitrangig. Es ist ein Ziel und das reicht. Ursprünglich sollte es um das Gefühl gehen, gefangen und wehrlos, einer anonymen Apparatur unterworfen zu sein – einem pervertierten Mechanismus. Das klingt doch bereits nach Kafka: ein wenig bekanntes Ziel, das nicht erreicht werden kann, und jede Menge Frustration obendrauf. Daraus folgte fast zwangsläufig die Idee eines Labyrinths oder Irrgartens. Ich nannte den Protagonisten übrigens Theo nach Theseus, der ebenfalls in ein Labyrinth zur Arbeit ging. Allerdings wusste er vorher vom Ort seines Unterfangens und schaffte es auch wieder heraus.

Insgesamt ist aus der Ursprungsidee schnell eine größere Allegorie geworden. Wiederum, wie ich es ja gerne mache, mit etlichen versteckten Kleinigkeiten, die alle ihre Bedeutung haben. Nicht immer bedenkt ein*e Autor*in all das, was die Leserschaft in den Text hineininterpretiert, aber häufig steckt auch mehr darin, als Leserinnen und Leser bemerken. Grundsätzlich sollte man Autor*innen so weit vertrauen, dass sich das, was geschrieben wurde, absichtlich und geplant entwickelt hat, und eventuell überflüssig scheinende Details eben nicht überflüssig sind. Derartig erscheinende Parts sollte man möglicherweise länger durchdenken. Ich jedenfalls bilde mir ein, dass ein großer Teil der Qualität meiner Texte in Details steckt und diese bei einer flüchtigen Lektüre leicht übersehen werden können – oder, was eben noch schlimmer ist, für Fehler gehalten werden.

Neben der Erzählung selbst ist wohl auch dieser Eintrag etwas labyrinthisch geworden. Das ist schon recht passend und wird deswegen so bleiben.

Hier nochmal der Link zum Eintrag zur Schwestererzählung Das Maurerdekolleté des Todes.

Podcast: Das Maurerdekolleté des Todes

oder hier:

https://laurasattelmair.podigee.io/6-destodes

Außerdem ist Lauras Podcast auf Spotify, iTunes und Soundcloud zu finden.

Die kurze Erzählung Das Maurerdekolleté des Todes ist eigentlich der zweite Teil von Das Maurerdekolleté des Lebens. Für sich stehend funktioniert sie jedoch auch, denke ich. Geschrieben hatte ich die Geschichte vor etwa zwei Jahren. Seitdem habe ich einiges dazugelernt und würde sie heute wohl nicht mehr auf diese Weise schreiben. Dennoch macht es mich stolz, dass eine meiner Geschichten nun auch in dieser Form konsumiert werden kann. In diesem Text werde ich einige Gedankengänge und Ideen der Erzählung darstellen. Lest ihn also erst, nachdem ihr die Folge gehört habt! [Spoileralarm]

Vorab zur Schwestererzählung Das Maurerdekolleté des Lebens: Die Geschichte ist geprägt von einem schier endlosen Labyrinth aus Baustellen und ist sehr kafkaesk geraten. Der Protagonist Theo geht dort am Anfang nach rechts, während er in dieser Fassung nach links geht. Von der Baustelle stammt der Titel, den man ohne Erklärung in dieser Version nicht verstehen wird.

Die im Podcast vorgelesene Geschichte hat sich genau wie ihre Schwestererzählung stark allegorisch entwickelt. Nach dem Verfassen hat sie mich allerdings weniger an Kafka erinnert, sondern mehr an Hesse oder Nietzsches Zarathustra. An Hesse wegen des Hinwegs und der Abgeschiedenheit, an Nietzsche wegen des Berges. Bewusst verbaut habe ich diese beiden Einflüsse nicht, weswegen sie auch bei der Interpretation nicht unbedingt hilfreich sein werden.

(Und ja, ich träume davon, dass Leser zuhause sitzen und meine Werke bewusst durchdenken, interpretieren, und dass irgendwann Professoren und Lehrer ihre Student*innen und Schüler*innen zwingen werden, meine Texte auf diese Weise zu verwursten, und dadurch möglicherweise Interesse oder lebenslange Abneigung wecken.)

Theo war so clever, auf sein Bauchgefühl zu hören und auf den „richtigen“ Weg zu gehen. In der anderen Richtung hätte er wenig Erfreuliches gefunden, wie man möglicherweise in einer weiteren Folge von Lauras Podcast feststellen wird. Das innere Bedürfnis nach links zu gehen führt den Protagonisten Schritt für Schritt in Gebiete mit immer weniger Einwohnern, immer weniger Verkehr und schließlich auf bisher unbetretenes Gelände. Dort findet er Frieden. Vorerst.

Die Welt der anderen holt Theo auf seinem Gipfel ein. Jeder will Frieden haben, also kann man – so die Theorie herzloser Geister – Frieden zu einem Produkt oder einer Dienstleistung machen und verkaufen. Der Grund, aus dem die meisten nicht haben, was Theo hat, ist der aufwändige Weg dorthin und, wenn wir ehrlich sind, der unbequeme Aufenthalt vor Ort. Es ist zu schwierig, gesund, frei, friedlich und – hier übertreibe ich – erleuchtet zu sein. Es ist schwierig, derartige Zustände zu erreichen, und schwierig, sie zu halten. Dadurch, dass der Weg erleichtert und der Ort für alle, die es sich leisten können, zugänglich wird, verlieren beide ihren Wert. Nicht bloß ist Theos Idylle zerstört, sondern auch für alle anderen unbrauchbar geworden.

Vage gingen mir Bilder von Touristenschwärmen in abgelegenen Tempeln und Menschen, die für ihren Instagram-Account vor Buddha-Statuen Selfies schießen, durch den Kopf. Auch an die Myriaden von Sinnsprüchen auf kitschigen, filterüberlagerten Bildern vom Sonnenuntergang dachte ich, die den Anschein von Weisheit und einen winzigen Rest von Kontemplation vorgaukeln wollen. Fotos von Menschen, die in Meditationspose auf einem Felsen sitzen und in die Weite schauen: Hätten sie gefunden, was sie ohne Kamera und die Person dahinter eventuell hätten finden können, wären die Bilder nicht entstanden. Manchmal denke ich an die Möglichkeit von Frieden – wenn auch nur für Momente –, die für einen Schnappschuss, für etwas Aufmerksamkeit durch andere, geopfert wurde.

Die Bauarbeiter verstehen Theo nicht und missverstehen, was er gefunden hat. Persönliche Freiheit lässt sich nicht optimieren oder verkaufen.

Auch die Expedition, die sich dem Einsiedler näherte, hatte ja schließlich die Chance, ihrem Labyrinth aus Absperrungen und Lärm zu entkommen, aber sie trugen ihren Käfig mit sich und brachten ihn an einen der wenigen Orte, die noch nicht zugemüllt waren mit den offensichtlichsten Spuren der Zivilisation.

Letzten Endes bleibt noch zu sagen, dass der Budenbesitzer (K. genannt in der Schwestergeschichte) ein zynischer Mistkerl ist, aber durchaus kein Lügner.

Das mitarbeitende Unterbewusste

Unbewusst schleichen sich immer wieder Elemente in meine Erzählungen, die mir erst später auffallen. Das Unterbewusstsein arbeitet mit…

Seit einigen Wochen nun schreibe ich bereits meine Blogeinträge und erstelle zu jeder neuen Erzählung einen neuen, auch wenn am Ende weder der fiktive noch der erklärende Text hochgeladen wird.

Zum Einen halte ich damit für mich und potentiell auch für andere Gedanken fest, die sich bei der Entwicklung und während des Schreibprozesses ergeben haben, um diese Ebene nicht im vagen Halbschatten meiner Erinnerung versumpfen zu lassen, zum Anderen aber auch, um mir selbst neue Perspektiven auf mein Schreiben und damit mich selbst zu eröffnen. Während der Arbeit an einer Geschichte, sagte Hermann Burger, dürfe der Autor keinesfalls als Literaturwissenschaftler agieren und interpretieren, da sonst der Grund der Geschichte offengelegt werden könnte, was die Weiterarbeit daran sinnlos machte. Dem gebe ich durchaus recht. Man sollte bei der Linie, bei der inneren Logik oder der Grundidee bleiben, die man sich während des Entwicklungsprozesses zurechtgelegt hat, und später, wenn alles vollendet ist, interpretieren – oder den Text schamvoll von sich weg in Richtung der Leserschaft schieben.

Mehrfach wies ich bereits darauf hin, dass ich der Ansicht bin, jeder fiktive Text bedeute für jeden Leser etwas anderes, und enthalte mehr, als jedem einzelnen klar ist. Das allerdings schließt den Autoren nicht aus. Zu meinem großen Glück sind meine Freunde mit Beobachtungsgabe und Reflexionsfähigkeit ausgerüstet, was mir wieder und wieder Momente beschert, in denen ich meine eigenen Erzählungen und eben auch mich anders, neu oder tiefer verstehe.
Das letzte Beispiel hierfür kam von einer Freundin und bezog sich auf das Erzählungsduo Das Maurerdekolleté des Lebens / Das Maurerdekolleté des Todes. Sie überquerte mit mir die Straße zu meiner Wohnung, schaute sich um und erkannte plötzlich den Weg, den Theo in den beiden Geschichten geht: die Ampel, die Straße, den Weg vom Haus aus rechts ins Labyrinth, vom Haus aus links in die Natur. Soweit empfand ich es lediglich als Kompliment, da sie offenbar aufmerksam gelesen hatte, gleichzeitig aber auch ausdrückte, dass meine Beschreibung eben konkrete, sich in der Realität wiederfindbare Bilder auslöste. Bei Daniel Kehlmann meine ich gelesen zu haben, dass, wenn sich der Autor eine Szene vollkommen vorstellen kann, er sie nicht vollkommen zu beschreiben braucht, um die richtige Vorstellung auf den Leser zu übertragen.

Vom Küchenfenster aus besah sie die Straße (in der Todes-Geschichte linker Hand) und erkannte wiederum etwas, was ich allerdings nicht bewusst verbaut hatte. Der Blick auf den Weg endet unter mehreren hohen Bäumen, deren Äste die Straße überdachen, danach schlängelt sie sich derartig, dass sie dem Auge entkommt. Hingegen steigt das Land an und erscheint durch Häuser im Vordergrund, die in der Ferne Ortschaften für den Beobachter blockieren, als beinahe unberührte Natur: die Straße wird von Bäumen verschluckt, endet, dahinter ist nur noch ein Berg und Natur.

Zwar war diese reale Straße Vorbild für jene in der Erzählung, doch bedachte ich lediglich die allerersten Meter und bastelte – oder glaubte zu basteln – den restlichen Weg aus meiner Fantasie. Wie man sich doch täuschen kann. Der Anblick war unbestreitbar passend zur Fiktion und rückte diese damit in eine neue Perspektive. In Richtung des Grünen, auch wenn dort bloß einige Felder die Vororte unterbrechen, gehe ich spazieren, um den Kopf zu klären. In die andere Richtung geht es zum Einkaufen, zu Bushaltestellen und Geschäften. Die Bezüge sind eigentlich vollkommen klar. Unbewusst landeten diese Erinnerungen und Assoziationen in meiner Geschichte und fielen (mir) auch bei mehrmaliger Überarbeitung nicht auf.

Ein weiteres Beispiel, das ich bereits irgendwo öffentlich einmal erwähnt hatte, findet sich in der Erzählung Unbesiegbar, die als Spiel mit Details und als literarischer Scherz konzipiert gewesen ist, aber auf anderer Ebene als überdrehte Selbstbeobachtung gelesen werden kann:
Dem Protagonisten geht sprich- und wortwörtlich einer ab, während er die Feindschaft der Welt in Form von Prügel durch einige Fremde zu spüren bekommt, und damit das selbstgewählte Außenseitertum und den Krieg mit der Welt zelebriert. Eine nicht unpassende Beschreibung des Mindsets, in dem Freunde von mir und natürlich auch ich selbst durch die Gegend rennen.
Zunächst einmal bin ich grundsätzlich wütend. Ich werde skeptisch, wenn jemand freundlich ist, mir Komplimente macht, auch wenn ich deren Richtigkeit eigentlich nicht bestreiten kann, oder meine Texte ernsthaft mag, obwohl ich natürlich fest von ihrer Qualität überzeugt bin.

Je länger der Text, desto größer die Freiheiten und Wirkungen des stets mitarbeitenden Unterbewussten. Meine Romanmanuskripte sind (noch) nicht öffentlich zugänglich und werden daher hier nicht besprochen werden, allerdings lässt sich eindeutig sagen, dass sich darin wieder und wieder neue Elemente finden lassen, deren Platzierung zwar absolut stimmig ist, die aber nicht bewusst verbaut wurden – Wirkungen des Unterbewussten also.

Dieser Gedankengang, diese Realisation gegebener und ausgesprochener Wahrheiten, die lange oder ewig unsichtbar für mich selbst wie Geister durch meine Geschichten spuken, faszinieren mich, sorgen aber auch für Beunruhigung. Sollte unrealistischerweise irgendjemand alle versteckten Wahrheiten aus all meinen Fiktionen filtern und zusammenfügen, welches Bild ergibt sich für ihn? Was weiß dieser Über-Leser über mich, das ich nicht weiß? Liest er noch Geschichten oder liest er bereits mich? Kann mich eine andere Person besser kennen als ich mich selbst – und das auch noch durch eigenen Verrat von und an mir selbst? Habe ich irgendwo Kontonummer und PIN in meine Texte codiert?
Das geht natürlich zu weit. Aber meine innere Logik verbietet mir, solche Ideen auszuschließen. Täte ich es dennoch, wäre ich kein guter Autor.

Nun, wer meine Texte im Ernst auf unterbewusst versteckte Botschaften scannt und dabei über meine Kontodaten stolpern sollte, hat mehr verdient, als die paar €, die auf meinem Konto zu holen sind.