Horror Vacui?

Leere oder Fülle? Kurze Formulierungen oder üppige Beschreibungen?

Vergleicht man klassische westliche Kunst mit klassischer Kunst – klassische Kunst benutze ich hier im Sinne einer Kunst nach lange bestehenden und ungefähr gleich bleibenden ästhetischen Grundsätzen – aus China und Japan, stellt man schnell mehrere grundlegende Unterschiede fest. Einer dieser Unterschiede liegt in der Nutzung der Fläche, die in der westlichen Kunst vollständig gefüllt zu sein hat, während in Asien oft die Leere dominiert. Da ich ein absoluter Laie bin, gehe ich nicht auf Details ein und auch nicht auf die Verbindungen zwischen Kunstverständnis und Religion/Philosophie in den verschiedenen Erdteilen, sondern möchte den angesprochenen Gegensatz als Denkanstoß verwenden, um über literarischen Stil nachzudenken.

Man sollte meinen, dass jemand, der einen Text derartig einleitet, unbedingt eine Lanze brechen wollte für die Sparsamkeit und den Mut zur poetischen Knappheit, doch wäre das in meinem Fall paradox. Sorck ist trotz der vergleichsweise geringen Seitenzahl reichlich gefüllt, sowohl sprachlich ausladend in mancher Hinsicht als auch inhaltlich nicht eben knapp. Aber das ist bloß die eine Hälfte der Wahrheit, denn gleichzeitig habe ich den Leser*innen viel Raum für eigene Vorstellungen und Interpretationen gelassen, und damit eine Überfülle an (für mich persönlich) redundant wirkenden Informationen weggelassen. Ein Beispiel wäre die kaum vorhandene äußerliche Beschreibung des Protagonisten, und auch das Aussehen der Nebenfiguren wird meist nur umrissen. Meine Idee ist grundsätzlich, dass es mir als Leser nicht hilft, wenn eine Figur detailliert beschrieben wird, da ich mir ohnehin eine eigene Vorstellung von ihr mache, die von der des Autoren/der Autorin abweicht. Einen Fürsten stelle ich mir in entsprechender Kleidung vor, auch ohne dass diese beschrieben wird. Solange das Äußere nicht der Charakterisierung der Figur oder dem Inhalt der Geschichte dient, ist es überflüssig und sollte nicht lang und breit beschrieben werden. Andere Ansichten sind selbstverständlich zulässig.

Sinn der oben angesprochenen Leere in japanischer und chinesischer Malerei ist unter anderem die Betonung der wenigen dargestellten Elemente. Alle nicht essentiellen Parts lenken nur vom Wesentlichen ab. Ist das Wesentliche eines Bildes ein Berg, brauche ich keine Wolkenlandschaft, es sei denn, die Wolken sollen die Höhe des Berges betonen. Aus meiner Sicht wären überbordende Beschreibungen wie die Wolkenlandschaft – möglicherweise hübsch, aber überflüssig und vielleicht sogar störend.

Wie man in bisherigen Artikeln feststellen konnte, verstecke ich gern Spielereien in meinen Texten (und in meinen gemalten Bildern, die nur selten noch einen weißen Fleck aufweisen, übrigens auch), Hinweise und Anspielungen. Das alles erfüllt einen Zweck, wäre aber bei strenger Befolgung einer Poetik der Knappheit wegzustreichen. Doch wo käme man hin, verfolgte man so eine Poetik? Vermutlich zurück zur Neuen Sachlichkeit, und da wollen wir nicht wieder hin, oder? Entsprechend müsste man an anderer Stelle eine Trennlinie ziehen. Meine Geschichten finden im Kopf statt. In den Köpfen der Figuren und in den Köpfen der Leser*innen. Action kommt vor – in Sorck sogar nicht wenig – und dient doch bloß der Untermalung des tieferen Sinns, dient Interpretationen und Lesarten. Im Roman bleibt absichtlich unklar, ob die Handlung tatsächlich passiert, ob sie allegorisch zu verstehen ist, ob sie vom Protagonisten geträumt oder fantasiert wird. Darüber soll man nachdenken, denn möglicherweise ändert die Lesart auch das Verständnis des Werkes.

Generell ließe sich streiten, was knapp, was leer, was genug, was zu viel oder zu wenig bedeuten soll, wenn es um Literatur geht. Am Ende ist es eine Frage des Stils auf Seiten der/des Schreibenden und eine Frage des Geschmacks auf Seiten der Lesenden. Als Leser genieße ich ausgelassene, poetische Sprache genau so sehr wie präzise, auf den Punkt formulierte Sätze. Sprachlich bin ich da offen, solange die Qualität stimmt. Inhaltlich jedoch bin ich wählerischer, verdrehe bei blumigen, unnötigen Um- und Beschreibungen die Augen und lege im schlimmsten Fall das Buch weg.

Wie seht ihr das?

Begrenzung

Gedanken über Schellings Philosophie der Kunst in freier Anwendung.

Der Philosoph F.W.J. Schelling argumentierte, dass die Welt, wie wir sie kennen, und alles darin, inklusive uns selbst, unserer Gedanken und der Dinge, die wir nicht wahrnehmen können, durch Begrenzung abgetrennte Teile einer einzigen Entität, des Absoluten, seien. Diese Theorie schloss dementsprechend auch die Kunst ein. Jedes Kunstwerk kann man als durch Begrenzung entstandenen Part des Absoluten, als Mischung aus der Ganzheit der Dinge und der Individualität des Kunstschaffenden betrachten. Über den Begriff der Begrenzung möchte ich kurz und öffentlich nachdenken.

Die Philosophie Schellings ist interessant, aber überholt und seine Ansichten über die Kunst ebenfalls. Er hätte viele heutige Werke (genau wie viele aus seiner Zeit) nicht als echte Kunst akzeptiert. Gehen wir es daher etwas kleiner an und hangeln uns nicht an seinen Ansichten entlang, sondern nehmen sie nur als Anreiz. Beziehen wir den Begriff des Absoluten einfach mal auf einen Menschen als Ganzes. Er besteht aus einem Körper, einem genetisch vorprogrammierten Kern, der durch Erziehung, Sozialisation und andere äußere Einflüsse, sich weiterentwickelt hat und schließlich ein komplexer Erwachsener geworden ist (mit vielen Erfahrungen, eigenen Gedanken, einer Meinung, Wünschen, Träumen und Grundüberzeugungen). Gehen wir davon aus, dass ein Kunstwerk Ausdruck dieser Gesamtheit ist, entstanden aus der Fantasie dieses Menschen und in der geschaffenen Form einzig und allein von diesem bestimmten Menschen erschaffbar, einzigartig wie der Mensch selbst. Gehen wir weiter davon aus, dass das Ziel dieses Menschen wäre, sich selbst komplett durch die Kunst zu erfassen und auszudrücken. Dieses Ziel würde die unmögliche Aufgabe an ein Kunstwerk stellen, nicht nur alles Bisherige darzustellen, sondern auch alles, was während der Herstellung Bestehende und Vorgehende, und dürfte erst fertiggestellt sein, wenn der Mensch stirbt. Doch auch dann wäre es nicht vollständig, weil es den Tod und die Momente vor dem Tod nicht darstellen würde.

Diese Unmöglichkeit umgehen Künstler durch Begrenzung. Es wird ein Ausschnitt gewählt, ein Thema oder eine Erfahrung, ein Lebensgefühl oder eine Idee, und dieser Ausschnitt wird zu einem Kunstwerk umgesetzt. Man kann eventuell eine Gesamtheit hinter dem Ausschnitt vermuten, wenn man das Kunstwerk betrachtet, aber die Gesamtheit ist nicht dargestellt, kann nicht dargestellt werden. Von allem, was den Kunstschaffenden ausmacht, und allem, was er kann, ist immer nur ein begrenzter Teil, eben ein Ausschnitt, darstellbar. Wiederholt man den Prozess häufig genug, nähert man sich der Gesamtheit, die man ausdrücken möchte, aber erreicht sie nie. Hinzu kommt die oben erwähnte Veränderung des Künstlers beim Schaffensprozess sowie danach. Kunst ist immer auch Ausdruck des Zeitpunkts, in dem sie entsteht, und des Menschen, der zu diesem Zeitpunkt oder in einer bestimmten Zeitspanne existiert. Im Folgejahr entstünde aus der gleichen Idee ein anderes Werk. Das ist vielleicht nicht der einzige Grund, aber ein Grund, warum man niemals aufhört, Kunst zu schaffen.

Das fertige Werk würde in seiner Begrenzung trotz seiner Entfernung vom Gesamtanspruch an die Kunst absolut und abgeschlossen sein und dennoch in dieser Absolutheit oder dieser Absolutheit unbeschadet doch wieder ein Glied des Ganzen (des Menschen, der das Werk geschaffen hat, und der Kunst, dessen Teil es ist) sein. [Der zitierte Teilsatz stammt aus Philosophie der Kunst von Schelling und bezieht sich eigentlich auch Teilbereiche der Philosophie innerhalb der allgemeinen Philosophie.] Immer Teil von etwas Größerem und dennoch für sich vollständig wie wir, wie alles.

Begrenzung ist unumgänglich für den Menschen. Eine Gesellschaft funktioniert, weil sie ihre Mitglieder und die Mitglieder sich selbst und gegenseitig begrenzen. Täte jeder, was er wollte, bräche die Gesellschaft zusammen. Allerdings will auch fast jeder in einer Gruppe mit anderen leben. Diesen Konflikt aus sich widersprechenden Forderungen in uns spüren wir jeden Tag.

Die Freiheit des einen endet spätestens, wo die Freiheit des nächsten beginnt. Das ist der Kern einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Das heißt, Freiheit selbst benötigt Begrenzung, sofern wir zusammen leben wollen (was wir ja wollen) und unsere Freiheit aufrecht erhalten wollen (was wir ebenfalls wollen). Inwieweit jeder einzelne seine Freiheit verteidigt oder eingrenzt, hängt vom freien Willen ab.

Der freie Wille scheint zunächst unbegrenzt, selbst wenn man äußerlich unfrei sein sollte. Unsere Entscheidungen sind in uns frei und scheinbar unabhängig von anderem, selbst wenn wir in der Ausführung gehindert werden. Doch das ist eine Illusion, wenigstens zum Teil. Freier Wille ohne Begrenzung wäre nicht bloß Willkür, sondern Chaos. Unsere Entscheidungen basieren auf unseren Erfahrungen, unserer Sozialisation und Glaubensgrundsätzen beziehungsweise Prinzipien sowie biologischen Faktoren. Eine Entscheidung kommt also nicht aus dem Nichts und sie funktioniert nur, weil sie begrenzt ist, nicht eingeschränkt, nicht unfrei, aber begrenzt. Wir können uns frei entscheiden in den Grenzen unserer Persönlichkeit. Das ist freier Wille.

Begrenzung ist das, was die Natur und damit uns ausmacht. Insofern gebe ich Schelling Recht. Betrachtet man die Gesamtheit der physikalischen Möglichkeiten der Welt, also das, was wäre, wenn es keine Begrenzung in der Natur gäbe, als das Absolute, könnte man ihm ebenfalls Recht geben. Allerdings ist unsere Welt nur durch die Begrenzung möglich und nicht aus einem Akt der Begrenzung entstanden – man kann keine Kausalbedingung herstellen, da die Gesamtheit ohne die Verbindung beider Dinge nicht möglich wäre: Begrenzung ohne das Absolute ist genau so wenig möglich wie das Absolute (so, wie es existiert) ohne Begrenzung. Dass ich auf einen Begriff wie das Absolute ausweichen muss, zeigt mir bereits, dass die Welt ohne jede Begrenzung eigentlich nicht einmal denkbar wäre – jedenfalls nicht für uns. Meine Begründung ist laienhaft, ich weiß. Man könnte behaupten, dass der Zustand des Universums vor dem Urknall das Absolute ohne Begrenzung gewesen sei und dass die Zeit danach eine zunehmende Begrenzung des Absoluten dargestellt hätte (Abkühlung, Entstehung von Teilchen, irgendwann Masse usw.), aber das ist keinesfalls, was Schelling meinte.

Stellen wir Schelling aber zur Ehrenrettung einen entfernt verwandten Gedanken von Jorge Luis Borges zur Seite. Borges betrachtete jedes einzelne Buch (oder literarische Werk) als Teil eines großen kosmischen Buches, das immer weiter geschrieben wird und alle Werke beinhaltet. Man könnte argumentieren, dass, auf die Literatur bezogen, das große Buch von Borges das Absolute darstellt und jedes einzelne Buch eine Begrenzung des Absoluten oder des absoluten Buches. Wohlgemerkt war Borges weder Philosoph noch gläubig, was man wohl sein müsste, um an ein absolutes Buch zu glauben, sondern spielte lediglich gern mit interessanten Gedanken. Er ging nicht ernsthaft von der Existenz des Buches der Bücher aus. Aber es ist ein schöner Gedanke.

So, jetzt sind wir alle verwirrt und brauchen eine Pause, oder? Ich habe diesen Artikel ohne größere Absicht verfasst, außer der, selbst nachzudenken und andere zum Denken anzuregen. Ich hoffe, das habe ich geschafft.

Gastbeitrag: All der Horror! Was stimmt denn nicht mit dir?

Ein Beitrag des Horrorautors Michael Leuchtenberger über die Motivation, Horror-/Gruselliteratur zu schreiben.

Mein Name ist Michael Leuchtenberger, ich schreibe und lese mit Vorliebe Horror-geschichten und übersinnliche Thriller. Und manchmal denke ich darüber nach, warum eigentlich.
Wenn jemand zum Beispiel über eines meiner Werke schreibt: „Es ist schon lange her, dass ein Buch mich so viele Fingernägel gekostet hat“, macht mich das als Autor glücklich. Ich verbreite gerne Angst und Schrecken, lasse mit Vergnügen Monströses und Unbegreifliches auf mein Publikum los. Weil ich Leute quälen will? Nein. Ich bin einfach überzeugt, dass andere an Horror genauso viel Freude haben wie ich.

Horror, das gemütliche Heim

Ich kann Bücher durchaus aus anderen Gründen interessant finden. Wegen Themen, Figuren, dem Humor. Der Abwechslung und neuer Eindrücke wegen lese ich zwischendurch gern andere Genres. Aber immer wieder kehre ich sehr schnell zum Horror zurück, was sich anfühlt, wie nach Hause zu kommen.
Es ist gar nicht nötig, mich deswegen als Sonderling zu inszenieren. Horror ist ein Genre mit jahrhundertelanger Tradition und großer Anhängerschaft. Auch über den Reiz und die Funktion von Schauerliteratur wurde schon viel geschrieben, Stephen King tat dies in „Danse Macabre – Die Welt des Horrors“, Lovecraft in seinen Essays noch viel früher. Trotzdem möchte ich der Frage „Warum Horror?“ einmal persönlich und unbefangen auf den Grund gehen.
Denn ich kann verstehen, dass viele einen weiten Bogen um Horror machen. Wer hat schon gerne Angst?
Eine berechtigte Frage, aus der sich die nächsten ergeben: Was stimmt nicht mit mir, dass ich – zumindest beim Lesen und Schreiben – eine Freude daran habe, mich zu fürchten oder zu ekeln? Warum kriege ich nicht genug von Geschichten, in denen andere Todesängste ausstehen, wahnsinnig werden oder qualvoll umkommen? Und warum muss es auch in meinen eigenen Geschichten düster und bedrohlich zugehen?

Horror beruhigt!

So sehr das Lesen als Leidenschaft Menschen vereint, so divers scheinen zumindest auf den ersten Blick die Bedürfnisse zu sein, die die erzählten Geschichten befriedigen. Sie bewegen sich zwischen zwei Extremen: Will ich etwas lesen, das mich beruhigt, oder etwas, das mich beunruhigt? Sollen Bücher mir ein Gefühl der Bestätigung, Geborgenheit und Sicherheit geben? Oder mir suggerieren, dass möglicherweise etwas „da draußen“ ist, das genau diese Sicherheit bedroht?
Ich habe mich schon immer für die zweite Option entschieden. Aber etwas daran erscheint mir widersprüchlich: Auch ich lese doch, um mich abzulenken. Auch ich will dabei den Alltag zurücklassen. Warum lese ich dann etwas, das mir Furcht einflößt?
Doch vielleicht ist da gar kein Widerspruch. Denn ich schalte ab, gerade weil die Geschichten spannend und gruselig sind. Sie fesseln mich – während Bücher, mit denen andere sich pudelwohl fühlen, in denen aber nur Alltägliches geschieht und Harmonie herrscht, mich sofort langweilen. Von Abschalten kann dann bei mir keine Rede sein.
Als Beispiel: Eine realistische Erzählung über die Donner Party, die 1846 tatsächlich in Nordamerika verschwand, mag an sich schon interessant sein. Aber wenn die Reisenden plötzlich von fremdartigen Bestien heimgesucht werden, wie in Alma Katsus Roman „The Hunger“, fängt für mich der Spaß erst richtig an. Andere dagegen verstört es allzu sehr oder sie rollen ob dem Dreh ins Phantastische abschätzig mit den Augen.
Zugespitzt kann ich sagen: Die Unruhe einer Horrorgeschichte beruhigt mich. Habe ich also doch das gleiche Grundbedürfnis wie die, die Liebesromane oder die Känguru-Chroniken lesen?

I want to believe – but I can’t

Dass ich Horror überhaupt so erleben kann, liegt daran, dass ich zwischen Realität und Fiktion sehr klar trenne. Das ist keine besondere Leistung, sondern mein Wesen. Ich kann gar nicht anders. Ich neige nicht zu Albträumen und habe – auch nach einem gruseligen Film – noch nie Angst gehabt, einen langen, dunklen Flur entlang zu gehen. Ja, beim Schreiben habe ich eine blühende Fantasie. Aber dafür lege ich einen Schalter um. In meinem Alltag bin ich Realist. Und manchmal fast neidisch auf Leute, die mehr sehen als das, was in meiner Wirklichkeit existiert.
Die Anspannung, die ich beim Ansehen eines gruseligen Film verspüre, empfinde ich als sehr positiv. Diese Spannung macht den Reiz am Horror für mich aus, während ich mit Splatter nichts anfangen kann und bei explizitem Body Horror schnell an eine Ekelgrenze stoße. Echte Angst empfinde ich nicht, oder zumindest überträgt sie sich nicht von der Fiktion in meine Realität.
Vielleicht gerade weil das so ist, habe ich schon immer eine Sehnsucht nach fiktiven Welten verspürt. Schon als Kind habe ich Märchen und fantastische Geschichten geliebt, in denen Reales auf Phantastisches trifft, allen voran „Die unendliche Geschichte“, später die Reihe „Wintersonnenwende“ und Jules Vernes Erzählungen über abenteuerliche Reisen.

Das morbide Kind

Schon damals haben mich die finsteren Elemente, die Geister und Ungeheuer, am meisten fasziniert. Ygramul und Gmork. Der Afanc. Die kreischenden Wilddruden in „Ronja Räubertochter“. Oder die Vorstellung, wie Professor Lidenbrock in einen Vulkan hinabzusteigen, der direkt in den Mittelpunkt der Erde führt – höllische Assoziationen inklusive.
Der Hang zum Morbiden setzte sich nahtlos fort, als ich Stephen King entdeckte, etwa seine Reihe „Der dunkle Turm“, später die Klassiker von Poe, Lovecraft und E.T.A. Hoffmann. In die gleiche Zeit fiel der Hype um die Serie „Akte X“, der auch mich voll erwischte. Der Kosmos voller Monster, Mutanten und sonstiger unerklärlicher Phänomene hatte es mir angetan. Der spezielle Reiz lag für mich auch hier wieder im Einbruch des Übersinnlichen in eine ansonsten realistische Welt.
Und natürlich stehen auf der Liste meiner Lieblingsfilme die schaurigen und rätselhaften ganz weit oben. „The Shining“ zieht mich vor allem mit seinem unheimlichen Ort in seinen Bann: das labyrinthische Overlook-Hotel spricht eine Urangst an, die mir auch in meinen Träumen und eigenen Texten immer wieder begegnet. Oder „Mulholland Drive“, das mir als Musterbeispiel dafür scheint, wie nah eine Geschichte an einem verwirrenden Albtraum sein, wie sie mit Identität und Realität spielen und damit das Publikum verunsichern kann.

Ist die Realität nicht schlimm genug?

Für die Sehnsucht nach dem Phantastischen habe ich schon eine mögliche Erklärung genannt, aber warum dieser ständige Hang zur Düsternis? Das ist eine Veranlagung, die nicht nur mit Geschichten zu tun hat. Auch Musik hat eine große Bedeutung für mich, und von ein paar Ausnahmen abgesehen sind es dunkle, melancholische Klänge, die mich besonders anziehen, Richtungen wie Darkwave, Coldwave und verwandte. Erkenne ich mich darin wieder? Bestätigen dunkle Geschichten und schwermütige Musik meine Weltsicht?
Während ich das schreibe, merke ich, wie es mir widerstrebt, in eine Schublade gesteckt zu werden. Ja, ich bin introvertiert und kein Partymensch. Aber nicht spaßbefreit oder ständig deprimiert. Nicht nur Grusel und Gothic haben mich geprägt, sondern auch Loriot und „Friends“. Ich liebe den Sommer und höre auch mal normale Popsongs.
Aber mir wäre eine reine Spaßgesellschaft zuwider, in der alles, was dunkel und bedrohlich ist, verdrängt wird. Ja, die Realität ist schlimm genug, und vielleicht will ich das Böse gerade deswegen auch in Geschichten erleben, das Nachdenkliche in der Musik hören. Davon lesen, sehen oder hören, dass Menschen Angst haben, weil das zu jeder Existenz dazugehört. Bei zu viel Happiness klingen in mir Alarmglocken: Oberflächlich! Heuchlerisch!

Das Ventil oder: Horror ist ein Kinderspiel

Das läuft nicht immer bewusst ab. Und es ist vor allem nichts darüber gesagt, ob ich mit dem Grauen im realen Leben besser umgehen kann als andere, nur weil ich mich in der Fiktion ständig damit konfrontiere. Denn das bezweifle ich. Nicht umsonst ist es meist phantastischer Horror, der mich besonders begeistert, seltener die Stories über Serienkiller oder andere, ganz irdische Gräueltaten.
Ich stimme King daher zu, wenn er – wie in “Danse Macabre” – Horrorgeschichten als eine Art Sicherheitsventil für reale Ängste beschreibt. Er spricht an dieser Stelle von den Konsument*innen von Horrorfilmen, aber ich glaube, es lässt sich auf Lesende und auch die Autor*innen übertragen.
Das Ventil scheint bei mir zudem seinen Zweck zu erfüllen, obwohl oder gerade weil ich die Angst in der Fiktion nicht als real Angst erlebe. Sind es am Ende dann also doch wir Horrorfans, die vor der Realität flüchten? Haben andere das Überdruckventil gar nicht nötig, weil sie die wahren Schrecken unserer Welt besser verarbeiten?
Wahrscheinlich ist es so, wie Matthias, der Betreiber dieses Blogs, es gedeutet hat (nachdem ich ihm den ersten Entwurf dieses Artikels zum Gegenlesen zuschickte, der an dieser Stelle endete): Horror hat etwas von einem Kinderspiel, von einer Probe für den Ernstfall. Ich weiß um das Übel in dieser Welt und habe Angst davor, damit eines Tages unvorbereitet konfrontiert zu sein. Mit diesem Gedanken kann ich mich sehr gut anfreunden, da ich beispielsweise auch nicht selten über den Tod nachdenke.

Von Horrorfans wie Nicht-Horrorfans würde mich interessieren: Was sind eure Gedanken dazu?

Portrait Michael Leuchtenberger - Foto von Matthias Hewing

Michael Leuchtenberger (Jahrgang 1979) veröffentlichte 2018 als Selfpublisher seinen Debütroman, den geisterhaften Thriller Caspars Schatten. 2019 gewann er mit seiner Kurzgeschichte Lampionfest den Schreib-wettbewerb zum Thema Zeitgeist 2020 von Litopian e.V. Ebenfalls 2019 erschien mit Derrière La Porte – elf sonderbare Kurzgeschichten sein erster Erzählband. Aktuell arbeitet er an einer Fortsetzung seines Debütromans mit dem Arbeitstitel Pfad ins Dunkel.

(Fotograf: Matthias Hewing)

Auf Papierkrieg.Blog bisher über Michael Leuchtenberger erschienen:
Michael Leuchtenberger: Derrière la Porte | Alte Akten und wilde Spekulationen

Über eine Idee und warum sie nicht funktioniert

Eine Romanidee und ihre Fehler.

Vor Kurzem bin ich über ein älteres Roman-Manuskript gestolpert und habe es gelesen. Anfangs war ich begeistert, dann verwirrt und schließlich etwas enttäuscht. Mir fiel wieder ein, welche Konzept-Idee hinter allem stand und erst mit viel Abstand habe ich erkannt, warum dieses Konzept nicht funktionieren kann.

Die Geschichte ist im Grunde auf drei Parts aufgeteilt. Zunächst wird eine Geschichte erzählt, die von einem fiktiven Autoren stammt. Im zweiten Teil werden die Poetik, sein Warum und seine Herangehensweise in Ich-Perspektive beschrieben. Im Dritten Teil zieht der fiktive Autor los und macht eine Reise rückwärts durch sein Leben.

Die Idee war, schrittweise durch ein Werk zu seinem Ursprung zu zoomen: Geschichte – bewusste Idee – unterbewusste Ursprünge; oder: Werk – Idee des Autors – Leben des Autors. Es sollte immer Bezüge geben zwischen den Ebenen, sodass man sehen kann, wie sich Erlebnisse zu Ideen und dann zu Geschichten entwickeln (für diesen einen Fall). Es sollte also um die alte Frage gehen, wie viel vom Schreibenden im Geschriebenen steckt. Gleichzeitig hätte das Buch im gleichen Verhältnis zu mir gestanden wie der erste Part des Buches zum fiktiven Autoren. Ich hatte für mich wiederum eine Poetik (und eine konstruierte Idee) erschaffen und konnte diese auf meine Erlebnisse zurückführen, beziehungsweise die Leser*innen hätten die Existenz meiner Ideenkonstrukte und der vorausgehenden Erlebnisse als Möglichkeit im Kopf gehabt.

Das angesprochene Konzept funktioniert allerdings nicht, jedenfalls nicht in der Form, wie ich es mir gedacht hatte. Problematisch ist zuallererst die Einteilung in voneinander weitestgehend gelöste Parts. Das ist für viele Leser*innen ungewohnt. Episoden-Romane gibt es natürlich, aber die wenigsten Autor*innen können ihren Leser*innen so etwas vorsetzen (und positive Rückmeldungen erwarten). Ohne das Konzept zu erklären und damit darauf hinzuweisen, dass man auf Parallelen und Details zu achten hätte, wäre es schwierig nachzuvollziehen gewesen.

Noch schwieriger ist der Poetik-Part, weil er für die allermeisten Lesenden ziemlich langweilig sein könnte (und in der vorliegenden Manuskript-Form sogar für mich war). Es liest sich, als hätte man zwei interessante Geschichten gehabt und dann einen Vorlesungsentwurf dazwischen gezwängt.

Der Mittelteil müsste also geändert werden, das heißt, er müsste vollends getilgt und ersetzt werden, wenn man überhaupt noch das Buch als ein einziges Werk zusammenhalten wollte. Immerhin sollte man nicht vergessen, dass der erste und der dritte Part jeweils auch als Geschichten für sich funktionieren. Diese beiden Teile müssten ebenfalls stark überarbeitet werden, aber würden eben funktionieren, während der Mittelteil komplett anders zu sein hätte. Man müsste ihn mindestens aufpeppen. Beispielsweise könnte man ihn als Interview oder Dialog schreiben, als Szene in einem Dokumentarfilm, beziehungsweise könnte man es so darstellen, als würde diese Szene gerade gedreht oder vorbereitet werden. Dadurch gäbe es mehr Action, mehr zu sehen sozusagen. Allerdings läge der Fokus nicht mehr auf den Infos, die für das Gesamtkonzept, sofern man es beibehalten möchte, nötig sind. Man könnte außerdem die Infos aus dem Poetik-Teil direkt als Reflexion in den Erlebnis-Part einbauen. Das würde möglicherweise die Erlebnisse weniger spannend machen und den Dreischritt der Ideenentwicklung verzerren, da Part Eins eigenständig dastünde und Part Zwei und Drei zusammengepresst und verdreht wären. Die Auftrennung, die das Projekt problematisch macht, scheint für das Grundkonzept notwendig zu sein.

Lassen wir diese Aspekte mal eben beiseite.

Ihr kennt das Manuskript nicht, was es schwieriger macht, darüber zu berichten. Teil Drei des Buches ist eine relativ straighte Fortsetzung einiger Punkte, die in Teil Zwei bereits erwähnt werden, kann aber auch für sich stehen. Wäre er ein Film, würde ich diesen Part als Road Movie bezeichnen. Eine chronologisch ablaufende Reise über einzelne Stationen, die jeweils einen zeitlichen Schritt zurück in die Kindheit darstellen, bis der Protagonist im Elternhaus ankommt. Somit können die Leser*innen den Lebensweg des fiktiven Autors der ersten beiden Parts nachvollziehen. Der erste Teil des Buches aber ist ein hochkomplexes Spiel mit Identität(en) und Realität(en) auf mehreren Ebenen. Das bedeutet, dass dieser erste Part für sich bereits schwierig ist und als Element innerhalb des Romans kaum handzuhaben ist. Ein Teil der Komplexität entsteht dadurch, dass bereits Aspekte des Gesamtkonzepts, also Vorgriffe in die restlichen zwei Drittel des Buches, mit eingearbeitet sind. Die Komplexität ist wiederum notwendig und problematisch. Zwar könnte man den Aufbau des Romans erklären, indem man sagt, dass das Chaos immer weiter aufgeräumt wird, indem es sozusagen doppelt gefiltert und erklärt wird: durch die Poetik und durch die Erlebnisse. Aber praktisch betrachtet, wäre das Ergebnis schwer zu ertragen. Dem Konzept steht also nicht nur der Mittelteil im Weg, sondern in diesem Fall auch das erste Drittel.

Ich könnte wohl eine neue, einfachere Geschichte fürs erste Drittel erfinden, den Mittelteil ersetzen und den letzten Part hart überarbeiten, aber sinnvoller wäre es wohl, das arme Ding zu erschießen. Als ich das Manuskript damals fertiggestellt hatte, wusste ich, dass ich es nicht veröffentlichen kann, aber ich wusste noch nicht recht, warum eigentlich nicht. Genau deshalb lasse ich Manuskripte eine Weile ruhen, bevor ich mich nochmals an die Arbeit setze. Ich lerne in der Zwischenzeit dazu und bekomme Abstand vom Werk. Wichtig ist dies auch für meine manchmal etwas überzogenen Ideen: Wenn ich 6 Monate nach Fertigstellung des Manuskripts nicht mehr verstehe, was ich gemeint hatte, werden es die Leser*innen wohl auch nicht verstehen können. Und ja, das kommt vor.

Ich betrachte diesen Blogeintrag übrigens nicht als Geschichte eines Scheiterns, sondern als Zusammenfassung eines Entwicklungsschrittes. Man soll und muss bereit sein, die Arbeit von vielen Monaten nachträglich als Übung zu betrachten, anstatt sie in die Welt zu zwingen. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass als Nachhall der Gedanken, die ich hier zusammengefasst habe, tatsächlich eine Lösung auftreten wird. Geschieht dies nicht (wovon ich ausgehe), werde ich das Manuskript ausschlachten und die Einzelteile recyclen. Part Eins und Part Drei jeweils als Erzählungen zu veröffentlichen, wäre eine Idee. Man könnte sie in einem Buch zusammenfassen, Part Zwei überspringen (beziehungsweise in den Kopf der Leser*innen verlagern) und die Parallelen zwischen beiden Erzählungen verdeutlichen. Packen wir’s an!

Die ständige Suche nach dem Warum

Über Selbstsuche und Literatur.

Auf diesem Blog geht es häufig um mögliche Begründungen: Warum ich gewisse Musik oder Literatur mag, warum ich überhaupt schreibe, warum irgendwer schreibt, warum ich dieses und jenes in Texten verwendet habe und nun, warum ich alles zu begründen versuche. Die Antwort könnte sein, dass ich mich selbst suche. Das klingt jetzt esoterisch und etwas kitschig, aber ist nichtsdestotrotz vermutlich korrekt.

Wer sein Leben verbessern will, muss zunächst verstehen, wie das eigene Leben aussieht und warum man die Entscheidungen trifft, die es leiten. Mit Verbesserung meine ich keine Optimierung im Sinne von Zeitoptimierung, Selbst- oder Arbeitsoptimierung, also mehr, besser, schneller Dinge zu erledigen, sondern hauptsächlich die Erreichung und Verstärkung von Zufriedenheit und Entscheidungsfreiheit. Verstehe ich nicht, warum ich mich für oder gegen Dinge entscheide, habe ich auch keine richtige Freiheit in den Entscheidungen, und verstehe ich nicht, was mich zufrieden oder unzufrieden macht, kann gefundene Zufriedenheit immer nur zufällig und für kurze Zeit gegeben sein. Indem ich also beispielsweise begründe, weshalb mir Slipknot und aggressive Musik dermaßen zusagt oder zu ergründen suche, warum Menschen schreiben, ist es meine Absicht, durch Erkenntnis größere Kontrolle über mein Leben ausüben zu können. Das ist jedenfalls meine aktuelle Vermutung. Das könnte außerdem der Grund dafür sein, dass Kontrolle und Kontrollverlust sich als Komplex zum Grundthema meiner Werke entwickelt hat. Mir reicht es nicht, zu wissen, dass ich etwas mag oder tue, sondern brauche einen Grund dafür, wie ich generell einen Sinn in allem bis hin zum Leben an sich brauche. Literatur wurde von mir für mich als Lebenssinnersatz auserkoren und auch dafür muss es Gründe geben.

Vielleicht umgehe ich den Kern des Problems, wenn ich dessen Symptome untersuche und begründe, anstatt tiefer zu gehen. Allerdings nähere ich mich der Grundproblematik und erhasche immer wieder Blicke darauf, wenn ich dieses und jenes aus der Peripherie untersuche. Dass ich beispielsweise überzeugt bin, dass Autor*innen grundsätzlich aus einer Unzufriedenheit heraus schreiben und abstrakt persönliche Probleme verarbeiten oder umgehen, zeigt mir mindestens, dass es in meinem Fall so ist. Wir schreiben nicht über uns, sondern überdecken uns wieder und wieder, bis etwas ganz anderes herauskommt. Das ist Teil des Problems und gleichzeitig die Schönheit der Tätigkeit.

Seit Jahrzehnten ist es im Literaturbetrieb üblich, dass Autor*innen gefragt werden, warum sie schreiben, und noch länger haben sie es sich selbst gefragt. Vermutlich ist die Antwort: Wir wissen es nicht, sonst würden wir nicht schreiben. Es ist denkbar, dass die Frage von Außenstehenden gestellt wird, weil sie sich selbst im Werk wiederfinden und nun selbst ein Warum dafür und für ihr Leben suchen. Meines Wissens nach wurde die Frage niemals vollständig oder wahrheitsgemäß beantwortet, hat aber viele interessante Wahrheiten zutage gefördert. Offenbar haben Autor*innen einen Hang zur Beichte. Sie wollen ihr Leben an die Öffentlichkeit tragen, aber verstecken sich entweder hinter ihrem Werk oder wissen schlichtweg nicht, welcher Teil ihres Lebens denn so sehr offenbart werden will oder warum er das will. Das soll keineswegs bedeuten, dass wir etwas zu verbergen hätten und Absolution suchten. Ich glaube eher, dass wir Entlastung suchen, indem wir unsere Seele in die Werke verlagern und diese dann an andere weitergeben. Dass wir gleichzeitig stolz auf die Leistung sind und von außen belohnt und gelobt werden, verstärkt die Tendenz nur noch. Auch diese Überlegungen helfen mir, mich selbst zu finden, und vielleicht liege ich für andere Autor*innen völlig falsch damit. Das muss jede*r für sich entscheiden.

Das Warum, das wir niemals vollends erfassen, ist entscheidend. Manchmal glaube ich, ganz nah dran zu sein, aber erreichen kann ich es nie. Klügere Menschen als ich haben sich daran versucht und sich spätestens an sich und dem eigenen Stolz gescheitert. Manche versuchten es mit brutalster Ehrlichkeit, indem sie die Grenze zwischen Erzähler und Autor*in aufzulösen, was natürlich niemals ganz gelang. Plötzlich stand die Kunst dazwischen oder die Sprache oder einfach die Unfähigkeit, mit Sprache das auszudrücken, was wirklich in uns vorgeht. Auch eine Autobiographie ist im besten Fall eine Mischung aus Handlungen und Erklärungsversuchen, wobei die Handlungen längst durch Sprache, verstellte Erinnerungen und Stolz gefiltert worden sind, und die Erklärungen stets im Nachhinein rationalisiert entstehen. Dadurch werden auch autobiographische Schriften zumindest zur Teilfiktion. Ich kann euch versprechen, dass meine Tagebücher stilisiert sind und ich damit (teils bewusst und teils unbewusst) Wirkungen bei imaginären Leser*innen erzielen will. Wir suchen also uns selbst, ohne uns selbst finden zu wollen. Ist das Selbstschutz oder die leise Erkenntnis, dass unser Vorhaben unmöglich ist?

Ich habe mir vorgenommen, mich in der Literatur nicht zu hemmen und damit die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass ich zu viel über mich selbst verrate, und gleichzeitig breche ich Projekte ab, die mir zu nahe gehen, überarbeite und filtere. Ist das Betrug an mir selbst und meinem Versprechen oder ist das wiederum Selbstschutz? Fakt ist, dass ich der Welt mein gesamtes Leben offenbaren könnte, ohne dass man mich verstehen würde. Damit ist kein universelles und arrogantes Niemand versteht mich oder ein Ich bin ein unverstandenes Genie gemeint, sondern die simple Tatsache der Unmöglichkeit, das eigene Wesen oder ein anderes vollends zu begreifen. Die schiere Komplexität des Zusammenspiels aus genetischen, psychologischen, erzieherischen und zufälligen Faktoren verbietet ein solches Vorhaben. Versucht man auch nur eine einzige Entscheidung vollständig und mit allem, was dazu gehört, zu ergründen, verrennt man sich schnell im Infinitesimalen und müsste am Ende die gesamte eigene Existenz bis hin zu Wetterfaktoren bedenken, käme irgendwann bei der eigenen Geburt und den Eltern an und müsste, wenn man wirklich gründlich sein wollte, dort weitermachen. Nebenbei bemerkt: Über die eigenen Eltern und deren Psyche und Geschichte nachzudenken, kann einiges im eigenen Leben aufklären.

Warum ich schreibe, warum ich die Menschen als Begleitung für meine Zeit auf Erde gewählt habe, warum ich bestimmte Musik mag oder gewisse Entscheidungen treffe, wird im Hinblick auf das Ganze meiner Existenz winzig und doch verrät es mir viel. Ich untersuche die Dachpfannen, weil ich wissen will, was im Keller geschieht. Mit etwas Glück kann ich erahnen, wie es auf dem Dachboden aussieht und nach vielen Jahren des Stöberns und Schließens hoffentlich bis ins Wohnzimmer vordringen. Damit wäre viel erreicht. Zufriedenheit und Freiheit sind meiner Meinung nach die Kernfaktoren eines guten Lebens und sie sind wert erkämpft zu werden (in der Außen- wie der Innenwelt).

Ich weiß nicht, ob ich mit solchen Gedanken allein dastehe, aber ich glaube es kaum. Bewusst oder unbewusst versucht doch jede*r, zufrieden und frei zu sein. Zu verstehen, was uns daran hindert, mag schmerzhaft sein, aber das mögliche Ergebnis rechtfertigt jede Unannehmlichkeit.

Sorck: Ein Witz

Über einen Scherz im Roman “Sorck”.

Allen voran bebte eine rotgesichtige Nixe, deren Abendkleid eine Eleganz ausstrahlte, als habe Dädalus persönlich es für eine Liebesnacht der Parsiphae gefertigt.

Klingt das nicht elegant? Falsch. Frischen wir mal ein wenig das allgemeine Mythologie-Wissen auf:

Parsiphae war die Gemahlin des Königs Minos von Kreta. Minos hatte es gewagt, den von Poseidon geschaffenen heiligen Stier nicht als Opfergabe zu verwenden, sondern ihn zum Zuchtbullen zu machen und seine Herde zu optimieren. Als Strafe hat Poseidon dafür gesorgt, dass Parsiphae auf den Stier steil ging, also sich verliebte. Da Dädalus (oder Daidalos) – ihr wisst schon, der Vater von Ikarus … die Sache mit den Flügeln und der Sonne – der Hoferfinder auf Kreta war, bat Parsiphae ihn, ihr ein Gestell zu basteln, damit der Stier sie besteigen konnte. Das tat er natürlich. Die Königin ließ sich vom Stier begatten, sie gebar den Minotaurus und Dädalus hatte wieder einen Auftrag: Das Labyrinth zu bauen, in dem der Minotaurus zu leben hatte.

Die Eleganz des Kleides der Dame in meiner Szene hatte also die einer Stier-Attrappe. Das fand ich mal witzig, bis ich den Witz hier eben erklärt habe. Vielleicht sollte man manches unangetastet lassen. Aber wenn wir schon dabei sind, kann ich den Artikel auch fertigstellen.

In Sorck befinden sich etliche mythologische Bezüge, die meisten davon weniger albern als dieser. Wieso habe ich das gemacht? Einerseits finde ich die Welt der Mythologie ausgesprochen interessant. Die Geschichten sind häufig aufgeladen mit Moral und tieferer Bedeutung, sie sind bunt und spannend und zeigen oft eine Suche nach Erklärungen auf, die man zur damaligen Zeit einfach nicht ohne göttlichen Beistand finden konnte. Beispielsweise gibt es die Geschichte, dass der Sohn des Sonnengottes dessen Wagen mit den Feuerrössern ausprobieren wollte, die Pferde nicht unter Kontrolle bekam, zu tief flog und damit die Bewohner des afrikanischen Kontinents für alle Zeit verkohlte und sie deswegen dunkelhäutig sind. Aus heutiger Sicht ist das natürlich Quatsch, aber es ist immerhin ein Erklärungsansatz und zeigt, dass sich die Menschen schon immer fragten, wieso die Dinge so sind, wie sie sind. Die meisten Geschichten sind jedoch moralischer Natur.

Ein anderer Grund für die mythologischen Bezüge ist auf ein philosophisches Werk zurückzuführen, für das wiederum ein mythologischer Bezug als Kern gewählt worden ist: Der Mythos des Sisyphos von Albert Camus. Camus vergleicht das Leben mit der endlosen und ewigen Aufgabe des Sisyphos, der im Totenreich einen schweren Stein einen Berg hinauf zu schieben hatte. Immer, wenn er oben angelangt war, rollte der Stein auf der anderen Seite wieder hinab und die Aufgabe begann von vorn. Allerdings hat Camus die scheinbare repetitive Hölle dieses Mythos umgedeutet und keineswegs argumentiert, dass das Leben unerträglich sei, sondern lediglich vollkommen sinnlos oder, wie er es schreibt, absurd. Alles, was wir tun, endet mit dem Tod und dieses Ende spricht dem Leben jedweden höheren Sinn ab. Alles ist vergebens. Die Einsicht der Absurdität des Lebens lässt der einsichtigen Person drei Reaktionen:

  1. Der logische Selbstmord.
  2. Flucht zu einer höheren Macht, um Sinn in einer anderen Instanz zu finden.
  3. Ersatzsinn.

Wem kommt das bekannt vor? Wer schon ein bisschen mehr von mir gelesen hat, weiß, dass ich Weg Nummer 3 gewählt habe und Literatur an die Stelle eines mangelnden echteren Sinnes gesetzt habe. Martin Sorck geht im Prinzip die 3 Stationen ab und die Flucht zum Glauben ist nicht nur durch die Kirchen repräsentiert, die er besucht, sondern eben auch durch die Bezüge zu den Götter- und Halbgöttergeschichten der griechischen, slawischen und nordischen Mythologie.

Jetzt bin ich weit abgekommen von einem Witz, aber macht das nicht einen guten Gag aus? Dass mehr dahinter steckt, als man annehmen würde? Nachdem ihr etwas Witziges lesen wolltet, habt ihr am Ende Sachen gelernt. Das finde ich witzig.

Wie funktioniert Interpretation?

Welche Vorgänge stehen hinter einer Interpretation?

(Eines vorweg: Dies ist keine Anleitung für korrekte Interpretationen und nutzt niemandem, der gerade nach Hilfe bei den Hausaufgaben sucht.)

Durch das Buch, das ich gerade lese (Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben), kam ich auf ein paar interessante Gedanken und Fragen. Zunächst dachte ich, dass ich die bildlichen Vergleiche in der Psychoanalyse hochinteressant finde, aber ich frage mich, inwiefern sie zutreffend sind oder sein können. Asthma als Erkrankung, die anzeigen soll, dass man sich erdrückt fühlt und einem die Luft zum Atmen in einer Beziehung (z.B. zu den Eltern) fehlt, klingt spannend, aber scheint mir völlig unbeweisbar oder wenigstens auf einen Glauben an einen Verstand hinzuweisen, der selbst bildhaft denkt und reagiert. Von den Thema habe ich allerdings zu wenig Ahnung, um es ernsthaft bewerten zu können. Mir kam durch diesen Gedanken jedoch die Idee, dass diese Vergleiche und dieses bildhafte Denken der literarischen Interpretation recht nahe zu stehen scheint.

Vor einer Weile habe ich Michael Leuchtenbergers Geschichte Das Archiv interpretiert (Hier geht es zum entsprechenden Artikel: Alte Akten und wilde Spekulationen). Diese scheint mir noch immer passend zu sein. Aber wie funktioniert eine Interpretation? Warum erscheint es logisch, Akten als Erinnerungen zu verstehen?

Für ältere literarische Epochen gibt es schon lange gewisse Regeln, um Texte zu verstehen. Dabei denke ich beispielsweise an die blaue Blume in der Romantik, die für Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen steht laut Wikipedia (und vielen anderen Quellen). Kennt man eine solche Regel und weiß, dass sich die Autor*innen der Romantik sich daran gehalten haben, fällt eine Interpretation erheblich leichter. Jedoch muss irgendwer auf die Idee gekommen sein, dass eine farbige Pflanze für innere Vorgänge stehen könnte. Wie kann das sein? Wie und wieso ziehen wir Parallelen zwischen derart unterschiedlichen Dingen?

Zunächst mal sollte klargestellt werden, dass ich diese Fragen nicht stelle, weil ich sie beantworten kann, sondern weil ich sie mich beschäftigen. Mit Texten wie diesem hier versuche ich selbst schreibend und denkend mögliche Antworten zu entwickeln. Es handelt sich um einen schreibenden Denkprozess. Wo sind also die Verbindungen und warum erscheinen sie mir logisch? Eine mögliche Lösung könnte in einem erweiterten Blickwinkel gefunden werden. Eine Akte beziehungsweise das Wort allein kann noch nicht legitim mit einer Erinnerung gleichgesetzt werden, auch wenn man Erinnerungen als Daten im Gehirn bezeichnen könnte und Aktenordner physisch festgehaltene Daten beinhaltet. Trotzdem wäre es zu weit gegriffen, jede Erwähnung von Akten(ordnern) in der Literatur als Erinnerungen zu interpretieren. Es ist bloß eine einzelne Assoziation. Man muss selbstverständlich die gesamte Geschichte betrachten und Konstellationen oder Ansammlungen ähnlicher Assoziationen sammeln. Die Mischung aus dem Abstieg in einen Keller, alten Akten, einem traumatisierenden Erlebnis und einer erwähnten Psychotherapie bildet ein Netzwerk aus Vorkommnissen, die alle in die gleiche Richtung interpretiert werden können. Hinzu kommen manchmal Schlagworte oder Hinweise innerhalb des Textes (hier der Vergleich zwischen Zeitschriften, die neben den Akten gefunden werden, und Erinnerungen). Dieser Hinweis ist ziemlich deutlich und erzwingt die Interpretationsrichtung schon beinahe, wirkt aber nur aufgrund der Einbindung in das erwähnte Netzwerk.

Damit ist aber noch immer nicht geklärt, wie es grundsätzlich möglich ist, derartige Vergleiche und Assoziationen zu finden. Wahrscheinlich benötigt man zur Beantwortung der Frage erheblich mehr Wissen in Fachbereichen, von denen ich keine Ahnung habe: Psychologie, Neurologie etc. Ich vermute aber, dass man die Bilder in Texten und die Dinge, die sie bedeuten (können), auf gemeinsame Nenner herunterbrechen kann, wie ich es weiter oben mit der Verknüpfung Erinnerungen/Akten – Daten gezeigt habe. Ist das aber bei (scheinbar?) Abstrakterem ebenfalls möglich? Wo ist die Schnittstelle von blauen Blumen und Sehnsucht? Man müsste beide Elemente der blauen Blume untersuchen: Farbe und Pflanze, also Eigenschaft und Gegenstand. Blau könnte als dunkle Farbe durch ihre Nähe zur Nacht ein Hinweis auf Melancholie sein, einem Gefühl, das als Anteil der Sehnsucht betrachtet werden könnte. Eine Blume wiederum ist schön, zerbrechlich und vergeht zwangsläufig. Die Schönheit der Pflanze kann als Bezug zum Objekt der Liebe (einer schönen Frau/einem schönen Mann) verstanden werden, ihre Zerbrechlichkeit mit der Gefahr (oder eingetretenen Situation) eines Endes einer Beziehung und ihr Vergehen im Zusammenhang mit dem Tod und damit einer Nachwelt oder einem transzendenten Zustand. Ohne weitere Hinweise durch ein Assoziationsnetzwerk wirkt diese Interpretation allerdings bei den Haaren herbeigezogen.

Mir ist bewusst, dass es professionelle Arbeiten zu allen erwähnten Themen gibt oder geben müsste, aber mir ist es wichtig, selbst auf derartige Erkenntnisse zu kommen, damit sie besser erinnert und möglicherweise angewandt werden können. Fassen wir also zusammen, was ich glaube herausgefunden zu haben: Die Interpretation von Literatur setzt voraus, dass interpretierte Details auf einen Punkt heruntergebrochen werden können, die sie mit etwas Anderem teilen, um eine neue Bedeutung anzunehmen, und in einer Netzwerk ähnlich zu verstehender Details Bestätigung der neuen Bedeutung finden.

Mir scheint diese von Assoziationen und Bildern getragene Denkweise urmenschlich zu sein. Mit Hilfe von Geschichten können wir Erinnerungen bewiesenermaßen besser verarbeiten und speichern. Denken wir beispielsweise an die Aborigines, die das Land mit Geschichten überzogen haben und sich niemals verlaufen. Denken wir außerdem an die Ursprünge jeder Religion, die in der Zuschreibung von Bedeutungen von Naturerscheinungen liegen, oder einfach an die Art und Weise, wie wir uns an unser Leben und unsere Erlebnisse erinnern: in Form strukturierter Geschichten, die nicht selten Sinn zuschreiben, wo eigentlich bloß Geschehnisse und Zufälle geherrscht haben. Ich finde es faszinierend, dass man literarisches Verständnis auf so tiefem Level mit dem menschlichen Denken und Sein zusammenbringen kann. Damit wäre Literatur eine Ausprägung eines Aspekts unseres Daseins, was mal wieder ihre Bedeutung unterstreicht. Mit dem Ergebnis bin ich zufrieden.

Alternativen

Über Literatur und Mutliversentheorien.

Es gibt etliche Multiversentheorien und ich spreche jetzt nicht von Marvel und co., sondern von theoretischer Physik – auch wenn sie zugegebenermaßen manchmal eher nach Philosophie klingen. Einer meiner liebsten Ansätze ist recht simpel. Setzt man ein unendliches Universum voraus, das eine endliche Menge an Material (Atomen und Kombinationsmöglichkeiten) beinhaltet, tritt irgendwann erstens Wiederholung ein und zweitens jede physikalisch mögliche Variation einer Gegebenheit. Das bedeutet, dass es in einem räumlich unendlichen Universum unendlich viele Erden gibt, auf denen das Gleiche geschehen ist und geschieht wie auf unserer, aber auch, dass es jede andere Variante von ihr gibt. Danach wäre es möglich, dass es jede Version meines Lebens irgendwo verwirklicht gibt. Jede Horrorvorstellung, jede Abart und jeder umsetzbare Traum ist verwirklicht, und natürlich gibt es auch unendlich viele Welten, in denen ich nicht existiere, gestorben bin oder niemals geboren worden bin.

Auf die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit meiner Existenz hier und jetzt als Konsequenz dieser Überlegung will ich nicht eingehen, obwohl sie interessant ist und eine ähnliche Verschiebung in der Bestimmung des eigenen Platzes im Kosmos bedeutet wie die kopernikanische Wende. Es soll im weitesten Sinne um Literatur gehen, wie es ja eigentlich immer um Literatur geht, wenn ich denke oder handle.

Fehlen mir einmal Ideen für Figuren oder Plots, denke ich an Multiversentheorien. Wie wäre ich gern? Wie hätte ich enden können? Was wäre passiert, wenn Gegebenheit XY anders gewesen wäre? Was würden Reichtum, Armut, ein anderes Glaubens- oder Staatssystem aus mir machen? Was hätte anders laufen müssen, damit dieses und jenes eingetreten wäre? Nicht nur findet man interessante Ideen auf diese Weise, sondern auch einen gewissen Fokus auf die Werte, die einem wichtig sind, selbst wenn sie einem zuvor nicht bewusst gewesen sein mögen. Wie bewerte ich eine alternative Existenz? Wäre ich gern der Firmenboss, der Soldat oder Propagandaminister, der ich auf anderen Erden bin? Und dann geht es weiter. Was wäre nötig, um mich zu korrumpieren? Wie schnell würde ich meine Ideale eintauschen gegen Sicherheit oder Reichtum? Bin ich vielleicht näher an einer anderen Version von mir, als mir lieb ist?

Auch wenn jeder meiner Texte fiktiv ist, stammen doch auch alle von mir, kommen aus mir und drehen sich im Kern um mich. Niemand sonst könnte diese Texte auf diese Weise schreiben. Daher sehe ich es als wichtige Aufgabe von Autor*innen an, sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren. Man sollte jedoch vorsichtig sein, das eigene Leben zu bewerten und sich möglicherweise zu verurteilen. Es geht nicht um Selbstverbesserung. Viel wichtiger wäre in dem Zusammenhang die Frage, warum wir unser Dasein auf eine bestimmte Weise bewerten. Stammt die Beurteilung aus einer wohlüberlegten Ethik oder übernehmen wir bloß die Ethik der anderen? Was halten wir vom Ergebnis? Selbsterforschung ist immer auch die Erforschung der anderen und umgekehrt.

Alle Literatur beginnt mit einem Was wäre wenn? und fährt fort mit einem ständigen Frage-und-Antwort-Spiel, das wir mit uns selbst ausmachen. Am Ende steht eine Geschichte, die von Dingen handelt, die in Wirklichkeit nicht geschehen und die dennoch aus der Wirklichkeit kommen und auf die Wirklichkeit wirken. Damit ist das Nachdenken über den Ist-, den Soll- und den Nicht-Soll-Zustand der Welt (auch und gerade im persönlichen Bereich) Grundlage des Schreibens. Je weniger ausgeprägt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist, desto flacher das literarische Ergebnis, könnte man schlussfolgern. Auch das wäre nur eine Theorie und ich muss mich fragen, ob es eine logische Schlussfolgerung oder versteckte Selbstbeweihräucherung ist, und natürlich auch, ob meine Reflexionsfähigkeit so ausgeprägt ist, wie ich glaube.

Mit einer Multiversentheorie habe ich den Text begonnen und ich möchte mit einer ganz anderen enden. Gehen wir von der realistischen Möglichkeit aus, dass eine intelligente Spezies die Technologie entwickelt hat, ganze Welten zu simulieren, in denen Wesen (z.B. Menschen) existieren, die sich für real halten – simulierte Intelligenz also. Eine logische Weiterentwicklung der Technologie wäre, dass sie zugänglicher würde, also wie ein Computerspiel zur Verfügung stünde. Dann könnten viele Wesen viele Simulationen erschaffen. Wir hätten also extrem viele simulierte Welten. Würde man nun eine Bestandsaufnahme der simulierten und realen Wesen machen, die sich alle für reale Personen halten, käme man logischerweise zu der Erkenntnis, dass es weit mehr simulierte Personen gäbe als tatsächlich und ursprünglich reale. Statistisch gesehen wäre es demnach wahrscheinlicher, dass wir in einer Simulation leben als im ursprünglich realen Universum.

Ein undurchdachter Einwand wäre: „Aber Menschen könnten diese Welten nicht erschaffen, weil wir diese Technologie noch nicht haben.“ Im Rahmen dieser Simulationstheorie könnten wir nicht wissen, was bereits entwickelt worden ist, oder auch nur, welches Jahr wir tatsächlich haben, sofern wir in einer solchen Simulation existieren würden.

Auch diese Theorie ändert in praktischer Hinsicht nicht das Geringste an unserem Leben, aber ist es nicht trotzdem furchtbar interessant? Vielleicht leben wir in einer Version von Sims, an die sich irgendein Alienkind setzt, wenn es eigentlich Hausaufgaben machen sollte.

Rache durch Kunst

Über eine mögliche Motivation hinter dem Schreiben.

Rache durch Kunst. Ist das überhaupt möglich? Ich hoffe es doch.

In Das schwarze Bild aus dem Erzählband Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger (eine Rezension findet Ihr hier: Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte) malt eine Künstlerin ein verfluchtes Bild, das für sie Rache nimmt. Die Geschichte hat mich an einen Ansatz meiner eigenen Arbeit erinnert, den ich inzwischen fast vergessen hatte. Ich bin ein wütender Mensch und hege mehr Groll, als man mir vermutlich zutraut. Daher war ein fast zwanghafter Gedanke zu Beginn meiner großen Schreibphase vor einigen Jahren, dass die Menschen einmal die Welt aus meinen Augen sehen sollten, um mich besser zu verstehen und (in einigen wenigen Fällen) um zu verstehen, was sie mir angetan haben. (Hier liegen bereits zwei Denkfehler vor: 1. Meine Werke sind keine Wiedergabe der Welt, wie ich sie sehe. 2. Diejenigen, an die ich dabei dachte, werden meine Werke vermutlich niemals lesen.) Adolf Muschg sagte: „Kunstwerke sind im Grenzfall die einzigen Beweisstücke, wieviel wir aus dem machen können, was uns angetan wird.“ Das passt hier mal wieder ganz gut.

Aus diesem „versteht mich!“- oder Rache-Gedanken folgte, dass ich Geister sozusagen mit meiner Weltsicht infizieren wollte oder anders formuliert: ich wollte Feuer legen. Damit hatte ich den Anfang von Sorck gefunden: Feuer.

Zwar arbeite ich schon lange nicht mehr mit dieser Idee im Hinterkopf (oder vielleicht nicht mehr bewusst?), aber sie fasziniert mich dennoch. Kann man die Werke von Künstlern als Rache an der Welt verstehen? Sie können Mahnungen sein und Warnungen, Verarbeitungen von Geschehnissen, Gefühle, Gedanken. Sie können ein Finger am Puls der Gesellschaft sein, Realitätsflucht und das Aufzeigen möglicher Alternativen. Im Rahmen all dessen hat die Rache ihren Platz, denke ich. Natürlich ist dies nicht das Leitmotiv (und schon gar nicht das bewusste) der meisten Autor*innen, aber es spielt bei manchen Schreibenden und anderen Kunstschaffenden mit hinein. Indem wir an die Öffentlichkeit treten und Werke, die aus unserem Verstand stammen, verbreiten, schicken wir auch eine Anklage an alles, was uns Schlimmes passiert ist, hinaus in die Welt. Damit stellen wir die Schuldigen an den Pranger. Diese Schuldigen können genauso gut Gruppen oder Gesellschaftsverhältnisse sein oder systembasierte Ungerechtigkeiten.

Wenn wir Kunst schaffen, nehmen wir etwas aus unserem Geist und stellen es in die Welt. Alle, die daran mitarbeiteten, dieses Etwas in unserem Geist reifen zu lassen, stellen wir damit indirekt ebenfalls in die Öffentlichkeit und setzen es ihr aus. Selbstverständlich kann das auch Positives sein. Nicht nur Täter arbeiten ständig an uns, sondern auch Wohltäter. In dem Fall wäre Kunst auch ein Akt der Dankbarkeit. Ich weiß genau, dass mich bei weitem nicht nur negative Erlebnisse inspirierten, sondern auch viele positive. Manchen Menschen setze ich ein Denkmal und anderen ein Mahnmal.

Das alles hier sind rein theoretische Überlegungen. Schriebe ich „XY hat mir dieses und jenes angetan“ ist das keine Literatur, sondern eine Anzeige. In manchen Fällen wären Anzeigen sicherlich die bessere Reaktion gewesen, aber hier soll es nicht darum gehen. Was uns formt und was sich im Verstand festfrisst, wird irgendwann wieder zutage treten, aber eben nicht, ohne dass es verändert worden wäre. Eine Geschichte, in der man (bewusst oder unbewusst) etwas verarbeitet, gleicht einem Mahnmal für die Opfer eines Krieges: es ist weit entfernt von der tatsächlichen Abbildung des Horrors, den die Opfer durchmachten, es ist ein Symbol, um uns daran zu erinnern, was geschehen ist, und es ist ein Beruhigungsmittel, das den Financiers des Mahnmals ein gutes Gewissen verschaffen soll, denn man hat ja irgendetwas unternommen (wenn auch zu wenig und viel zu spät). Das Bild, das Kunstschaffende schließlich in die Welt stellen, hat nicht mehr viel mit dem zu tun, was sie zur Kunst gebracht hat. Schichten um Schichten von Erinnerungen, Verarbeitungen, Rechtfertigungen, Ablenkungen und kunsttheoretischer sowie stilistischer Überlegungen und Überarbeitungen stehen dazwischen. Übe ich heute meine Rache in Form von Geschichten, sieht niemand außer mir die Rache darin, und diejenigen, an denen ich mich irgendwann einmal rächen wollte, erinnern sich vermutlich nicht einmal mehr daran, dass sie etwas getan haben, das Rache verdient.

Letztendlich ist Rache eine Fantasie der Schwachen und Unterdrückten und wird hinfällig, wenn der Zustand der Unterdrückung und Schwäche überwunden worden ist. Die Narben bleiben, aber der innere Schutzwall in Form von Rachefantasien wird überflüssig. Ich möchte gern glauben, dass meine Zeit der großen Schwäche vorüber ist und die letzten Rachegedanken nur noch Katalysatoren sind, die mich vorantreiben in meiner Arbeit, aber keine Notwendigkeit mehr darstellen und um ihrer selbst willen hinfällig sind. Ich bin über meine Feinde erhaben, sie können mich nicht mehr erreichen, denn ich lebe das Leben, von dem ich immer geträumt habe.

Jahresrückblick IV: Literatur II (Meine Bücher)

Jahresrückblick 2019 mit Fokus auf meine literarische Arbeit, Veröffentlichungen, Interviews usw.

Auch wenn 2019 für mich ein extrem spannendes Jahr gewesen ist, müsste der korrekte Titel dieses Eintrags eigentlich „Halbjahresrückblick“ heißen, weil die Wendepunkte und spannendsten Situationen erst Mitte des Jahres angefangen haben.

Beginnen wir also mit dem wichtigsten Punkt des Jahres (und vielleicht meiner gesamten Erwachsenenzeit). Am 27.06.2019 habe ich meinen ersten Roman veröffentlicht. Sorck schlug ein wie eine Bombe. Also bei mir. Emotional. Hunderte Arbeitsstunden und viel Stress kulminierten in einer einzigen Veröffentlichung, die mich ausgesprochen stolz macht. Über den Roman habe ich mehrere Artikel verfasst, falls ihr es tatsächlich verpasst haben solltet.

Aus der Veröffentlichung und meinen Werbebemühungen haben sich interessante Kontakte und Kooperationen ergeben. Ich habe mehrere Interviews gegeben (Bluesiren.de | Autorennetzwerk | BirgitConstant.de), es gab bisher zwei Buchblogrezensionen (Buchensemble | KeJas BlogBuch) und wird übrigens bald weitere geben, mehrere Personen haben sich als Testleser angeboten (und mir auch schon bei anderen Projekten weitergeholfen). Dann machte ich mich auf die Socken und konnte ein paar Deals mit (Buch)Läden an Land ziehen. Wie ich das hinbekommen habe, könnt ihr hier nachlesen: Selfpublishing und Buchläden. Besonders freut mich die Zusammenarbeit mit Landgut, einem Laden für lokale Lebensmittelprodukte und das erste Geschäft, in dem ich den Roman auslegen durfte. Witzigerweise habe ich dort die meisten Bücher verkaufen können von allen Geschäften, in denen es ausliegt. Das liegt sicherlich auch daran, dass ich Landgut erwähnt habe, als das erste Mal ein Reporter der Ruhrnachrichten zu mir kam. Ich weiß noch, wie furchtbar nervös ich vorher war. Wie das ablief, kann man hier nachlesen: Sorck: Ein Zeitungsartikel.

Durch die neuen Bekanntschaften, hauptsächlich über Twitter, und wegen der Qualität von Sorck wurde ich dann eingeladen, bei Nikas Erben mitzumachen und freue mich sehr, dass in der nächsten Anthologie Geschichten von mir erscheinen werden. Details darf ich leider noch nicht verraten. Für mich war die Einladung ein großer Erfolg.

Im Oktober besuchte ich die Frankfurter Buchmesse und einige meiner Kontakte wurden enger. An allen Tagen lief ich mit Elyseo da Silva herum, hatte viel Spaß, habe einiges gelernt und bin seitdem angefixt vom Flair dieser Messen. Deshalb werde ich auch im März zur Buchmesse nach Leipzig fahren und dort hoffentlich einige Leute wiedersehen und ein paar neue kennenlernen.

Ein weiterer besonders wichtiger Punkt war erreicht, als ich Alte Milch veröffentlicht habe. Der Gedichtband bedeutet für mich viel, weil ich damals mit Lyrik angefangen hatte und immer eine besondere Verbindung zu dieser Textform hatte. Außerdem wollte ich immer beweisen, was ich kann, und das schließt schriftstellerisch nun einmal Romane, Lyrik und kürzere Prosa mit ein. Eine Sammlung mit Kurzgeschichten und Erzählungen wird also garantiert noch folgen.

Die Veröffentlichung des Gedichtbands führte übrigens auch wieder zu einem Zeitungsartikel. Auch Wochen und Monate nach den Artikeln sprechen mich noch Leute darauf an und versprechen mir, mindestens eines der Bücher noch kaufen zu wollen. Es gefällt mir, dass es stetig weitergeht, ich bekannter werde, meine Werke bekannter werden und ich nicht die Motivation verliere, an meinen Werken zu arbeiten und meine Ziele zu verfolgen. Ich bin stolz auf mich.

Ich sollte nicht vergessen, dass es auch mit dem Blog voranging. Es gab wieder mehr Beiträge und auch mehr Besucher. Weiterhin habe ich keinen festen Redaktionsplan, sondern arbeite daran, wenn ich Zeit habe und mich die Inspiration packt. Damit fahre ich gut, denke ich. Auch 2020 wird es Beiträge über Literatur, Musik, Kunst, eigene Werke und was auch immer mich sonst noch inspiriert, geben.