Vor wenigen Tagen wurde beim Buchensemble meine Rezension zum Gedichtband Rückkehr der Schiffe von Hilde Domin veröffentlicht: Wunderbare Ungereimtheiten. Das nehme ich zum Anlass, um über Gedichte zu schreiben. Warum ich sie lese, warum ich sie schreibe und warum sie immer geschrieben werden sollten.
Dunkle Vögel, dunklere Gefühle
Für mich fing alles mit The Raven von Edgar Allan Poe an, erzähle ich mir selbst. Das ist jetzt ein halbes Leben her, 20 Jahre. Damals ging es mir schlecht. Irgendwie bin ich auf The Raven gestoßen oder wurde darauf aufmerksam gemacht. Das Gedicht gefiel mir, weil es so düster und traurig ist. Es passte. Von Poe aus suchte ich nach anderer Lyrik und fand Baudelaire, Blake, Lord Byron, Trakl und weitere. Außerdem versuchte ich mich selbst an Gedichten, zumeist unter so schönen Titeln wie Auf himmlischen Wogen (Das Leben ist Dreck) oder Mein Besitz heißt Schmerz. Zugegeben, etwas theatralisch.
Wenn ich heute diese Texte überfliege – sie detailliert zu lesen, ist mir unangenehm –, fallen mir zwei Begriffe ein: Theatralik und Unbegrenztheit. Theatralik aus offensichtlichen Gründen und Unbegrenztheit aufgrund fehlenden Stils, fehlender Einschränkungen, Begrenzungen eben: Rhythmus, Wegschneiden überflüssigen Materials, Ausradierung störender Wiederholungen. Verknappung erschafft meist die besseren Gedichte. Doch das wusste ich damals noch nicht. Überarbeitung war ein Fremdwort.
Alte Milch, natürlich
18 Jahre später habe ich den ersten Gedichtband veröffentlicht. Moment, das stimmt nicht ganz. Irgendwann in Teenager-Jahren hat es ein kleines Buch gegeben, das ich mit Hilfe eines Freundes kompiliert, gestaltet und gedruckt hatte. Ausgesprochen unprofessionell und kitschig, aber immerhin vorhanden. 18 Jahre später also folgte der erste richtige Gedichtband mit Alte Milch. Am 02.10.21 feiert diese Veröffentlichung bereits den 2. Jahrestag. Es freut mich noch immer über alle Maße, wenn mir Leser*innen von ihrer persönlichen Verbindung zu meinen Gedichten berichten. Das war es, was ich mir erhofft hatte. Noch schöner wäre lediglich, würden noch mehr Menschen Alte Milch kaufen und lesen.
Hermetische Lyrik und Dichtmaschinen
Es gibt Gedichte, deren Inhalt sich nicht (sofort) erschließt. Vermutlich schreiben viele Menschen in gewisser Weise hermetische Lyrik, ohne es zu wissen, weil sie über sich selbst und ihre Erfahrungen schreiben, deren Kenntnis wiederum ausschlaggebend für das Verständnis der Texte ist. Auch ich mache das gelegentlich. Kryptisch dargestellte Erfahrungen und Themen erwecken meiner Meinung nach trotzdem passende Stimmungen und oft auch Ideen. Sie lassen Leser*innen nicht völlig ahnungslos und frustriert zurück, sondern bieten mehr Raum für Interpretation und emotionales Verständnis als deutlich formulierte Gedichte.
Paul Celan, den meisten am ehesten bekannt durch das Gedicht Die Todesfuge, schrieb später viel hermetische Lyrik, für deren Verständnis derart viel Vorkenntnis fachlicher Zusammenhänge als auch biographischer Details vorhanden sein musste, dass die Gedichte auf die meisten Leser*innen wie kryptischer Unfug wirken können. Ich selbst sitze manchmal davor und bewundere sie wie Rätsel, die ich niemals lösen können werde. Doch es steckt Sinn darin und dahinter, und genau das macht sie spannend.
Jetzt suche ich einen Vergleich zu von Maschinen produzierter Lyrik, die sich äußerlich oft ähnlich gibt, aber eben keine tieferen Gedanken verbirgt. Maschinenlyrik versteckt das Künstlerische in der Erstellung der Produktionsweise durch einen Menschen sowie in der völligen Freiheit der Interpretation durch die Leser*innen, weil das Verständnis 100 % frei ist, weil es einfach keinen intendierten Sinn gibt. Das gilt natürlich nur, sofern die Menschen, die hinter den Produktionsmechanismen stehen, nicht eingreifen, sortieren, Überschriften wählen und nachträglich Sinn stiften.
Wer sich für Gedichte interessiert, die von Maschinen, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz oder anderweitig nicht-menschlich entstehen, könnte beispielsweise poesie.exe von Herausgeber Fabian Navarro lesen. Ich konnte durch das Buch und gerade durch die Erklärungen im hinteren Teil sowie online viel lernen.
Lyrik als literarischer Punk
Kaum jemand wird behaupten, dass Gedichte keinen Platz in der Literatur hätten oder haben sollten. Dennoch kann so gut wie niemand vom Dichten leben. Immer mal wieder schmücken sich große Verlage mit Gedichtbänden, der Nobelpreis geht an Dichter*innen oder ein Großevent wird durch ein gelesenes Gedicht anspruchsvoller gemacht. Das sind Sonderfälle. Im literarischen Alltagsbetrieb ist Lyrik absoluter Underground.
Da ich noch immer die Denke, dass alles, was sich gut verkauft, irgendwie schlecht sein muss, im Hinterkopf habe, was zwar oft bewiesen wurde, aber in der Allgemeinheit seiner Aussage Quatsch ist, gefällt mir die Außenseiterposition der Lyrik. Seht mich an und staunt, ich bin ein Mann, der Gedichte schreibt! Blablabla. Es ist schade. Es steckt viel Arbeit in Gedichten – und wenn wir schon dabei sind, natürlich auch in Kurzprosa –, welche fair entlohnt gehört. Leider wird das Schreiben von Gedichten häufig als Liebhaberei, als Hobby angesehen. Generell halte ich die Meinung, dass Schreiben (ob nun Prosa oder Lyrik) allgemein eine Art Hobby wäre, für das man gelegentlich bezahlt wird, für eine Frechheit. Ich bin gerne Außenseiter, aber ich möchte auch nicht degradiert werden.
Lesen und schreiben, was gelesen und geschrieben gehört
Wir alle kennen diese Sätze in Romanen, die man unterstreichen oder herausschreiben möchte, die uns mehr sagen als die 20 Seiten davor und die nächsten 20, weil sie uns berühren, weil sie uns widerspiegeln, weil ihre Formulierung etwas in uns weckt. Gedichte sind nicht nur gedichtete, sondern besonders verdichtete Texte. Sie ziehen zusammen und erlauben dadurch Weite. Ein gutes Gedicht bringt Sätze wie die beschriebenen in größerer Häufigkeit, vielleicht sogar von Anfang bis Ende ohne Unterlass, weil es ein Konzentrat ist aus dem, was in einem ganzen Roman stecken kann. Nicht Handlung, sondern Geist und Herz.
Ich habe anfangen, Gedichte zu schreiben, weil sie ein Leben und eine Anhäufung von Problemstellungen besser beschreiben konnten als ich sie zu verstehen vermochte, weil sie ein Übermaß an Emotionen griffen, auswrangen und in dickflüssigen Tropfen aufs Papier gaben, weil sie ausdrückten, was ich nicht sagen konnte, wollte, durfte. Auf der Suche nach solchen Kondensationen von Größerem schreibe ich noch heute, und ja, um Dinge zu verarbeiten. Noch heute. Genau deshalb lese ich auch Gedichte. Ich suche die zähen Tropfen, die andere aus ihren Leben gewrungen haben, um meines zu bereichern, meine Perspektiven zu ändern, mich zu lehren, dass auch andere Menschen Tiefe besitzen, wertvoll sind, Gedanken haben, die meine rechtfertigen in all ihrer Zerbrechlichkeit. Ich lese Lyrik, um mich selbst zu finden.
Warum Gedichte gelesen und geschrieben gehören, habe ich damit beantwortet. Weil es notwendig ist. Weil wir sie brauchen. Weil sie in uns greifen und uns herausholen, befreien, uns erlauben, wir zu sein und uns dabei ein wenig zu verstecken, nur so viel, dass wir uns öffnen und atmen können.