Wort und Ton: Über Stimmen

Stimme, Stimmung, Erzählstil und Geschrei. Über das Sprechen und Schreiben.

Meine Sprechstimme ist nicht meine Schreibstimme, die Schreibstimme nicht immer die Gleiche, meine Vorlesestimme härter als die Sprechstimme, obwohl sich diese immer mal wieder ändert.

In diesem Blogeintrag soll es um Stimmen gehen und um Wörter: geschriebene und gesprochene.

Stimmung und Stimmen

Aufgeregt spreche ich schnell, hektisch, wie auf Speed. Verängstigt bin ich leise, die Stimme ist schwächer noch als bei Müdigkeit. Spreche ich am Telefon mit Ämtern, klinge ich anders als am Telefon mit Freund*innen, bei diesen jeweils unterschiedlich, und persönlich nochmal anders als am Telefon. Viele Menschen bemerken es nicht, aber man kann einiges an ihren Stimmen ablesen, besonders wenn man sie besser kennt.

Das Gleiche gilt für Schreibstimmen. Wir machen es oft unbewusst, passen unseren Stil an die Begebenheiten des Textes an, werden schneller an spannenden Stellen, werden langsamer in ruhigen Sequenzen. Man entwickelt ein Gespür dafür, vermutlich verstärkt durch gute Lektüre, vielleicht aber auch einfach aus dem Alltag heraus. Erzählpraktiken sind Alltagskommunikationspraktiken. Zwar erzählen wir literarisch eine Geschichte anders als im persönlichen Gespräch, aber dennoch wenden wir auch dort Erzähltechniken an. Wir nutzen Spannung erzeugende Wörter wie „plötzlich“, untermalen unsere Worte mit Gestik und Mimik (was wir beim Schreiben kopieren oder umgehen), setzen seltener ab an spannenden Stellen (schriftstellerisch würde man beispielsweise weniger Unterbrechungen durch Punkte einfügen, sondern längere, hastige Sätze nutzen) oder setzen absichtlich eine Pause vor einem Höhepunkt, um die Spannung weiter zu heben und zu halten.

Gesang und Musik in der Literatur

Es gab mehr als eine Person, die Lyrik mit Musik verglichen hat. Der Rhythmus macht’s. Keine Sorge, ich werde jetzt keinen Vortrag über Metrik und all das hier hinklatschen, sondern nur darauf hinweisen, dass der Rhythmus, mit dem wir etwas persönlich erzählen, sich in der Lyrik widerspiegelt (wenn wir es wollen). In meinem Fall erinnert der Rhythmus der Gedichte eher an den Rhythmus meines Gedankenstroms. Ich spreche sortierter, weil ich schweige, bis ich zusammenhabe, was ich sagen möchte. Aber ich denke sprunghaft, chaotisch, auf mehreren Ebenen zeitgleich. Das gilt zumindest für die Zeiten, in denen ich emotional engagiert und nicht völlig entspannt bin. Gedichte wiederum würde ich nicht schreiben, wäre ich völlig entspannt (was ich ohnehin im Grunde niemals bin). Manchmal durchbreche ich lyrisch meinen Gedankenstrom absichtlich, zerteile ihn, leite ihn um. Auch das ist meine literarische Stimme: Sie widerspricht all meinen anderen Stimmen, wenn sie es will oder muss oder beides, also: soll.

Dass die Ursprünge der Lyrik in frei vorgetragenen Gesängen liegen, wundert wohl niemanden. Die Verbindung zur Musik ist deutlich. Doch schwieriger ist es, Musik in Prosa umzusetzen oder zu übersetzen. Manche Autor*innen machten und machen es sich einfach, indem sie es für die Leser*innen schwierig machen. Sie werfen mit Fachbegriffen aus der Musik um sich, mit denen manche Leser*innen nichts anfangen können. Sie nennen Songs und Stücke, aber bleiben dabei bei einer reinen Nennung, die keineswegs das Gefühl auslöst, das ebendieser Song oder ebendieses Stück selbst auslösen würde. Wie also Musik beschreiben? Schwierige Frage. Ich kann es nicht (oder nicht gut). Die beste Umsetzung beschriebener Musik habe ich bisher bei Proust gefunden in In Swanns Welt, dem ersten Buch der Reihe Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. (Über dieses erste Buch hinaus habe ich es übrigens nie geschafft.)

Geschrei und wirklich lautes Schreiben

Manchmal muss man laut werden, manchmal will man es bloß. Man könnte eine laute Erzählstimme nun mit einer Vielzahl von (falsch gesetzten?) Ausrufezeichen zu erreichen versuchen. Aber das sieht nun einmal behämmert (und alles andere als gekonnt) aus!!! Auch CAPSLOCK ist nicht wirklich eine Option. Doch wann und warum sollte man überhaupt literarisch schreien wollen? Eine erste Antwort wäre recht wörtlich in Dialogen zu finden: eine Figur schreit. Etwas abgehobener fielen mir Lyrik und andere Kurzformen ein, die allgemein etwas freier sind und häufig Gefühle direkter übertragen beziehungsweise direkt von diesen handeln. Ein Gedicht ist ein Schrei, wenn di*er Autor*in es so will oder di*er Leser*in es so versteht.

Im Falle von Dialogen wäre die simpelste Lösung, das Geschrei in Form einer passenden Inquit-Formel zu verdeutlichen: „F*** dich!, schrie sie.“ Oder man lässt di*en Dialogspartner*in etwas Entsprechendes antworten („schrei doch nicht so“). Doch an dieser Stelle könnte man wenigstens die Erregung in der Stimme der sprechenden Figur mit anderen Mitteln darstellen. Ist man wütend, spricht man Sätze oft nicht zu ende, verhaspelt sich, nutzt Kraftausdrücke und Beleidigungen (je nach Situation) und gestikuliert bei alledem. Geschrei ist die Grenze zwischen verbaler Kommunikation und einer Handlung. Näher kommt eine Stimme nicht mehr an eine Tat heran. Gesten kann man in Einschüben beschreiben. Hier kann man stark den Leser*inneneindruck einer Figur beeinflussen, indem man die Gesten gerade in hocherregten Zuständen neutral, ernst, weniger ernst oder sogar lächerlich beschreibt (bewegen, schlagen, wedeln, fuchteln etc.).

Zeit mich zu korrigieren: in stilistisch im Grunde völlig freien Texten wie Gedichten kann man sehr wohl Capslock verwenden oder beispielsweise (nicht gerade für Geschrei, aber generell) die zum Meme gewordene abwechselnde Groß- und KleinScHrEiBuNg, wobei man bei letzterem die Vorkenntnisse der Leser*innen und deren Verständnis und Assoziationen miteinbeziehen muss. Auch damit imitiert man im Grunde einen Sprechakt und ein Augenrollen zugleich.

Macht, was ihr wollt! Die Kunst ist frei. Ich persönlich bin übrigens ein Fan von sparsam aber gezielt gesetzten Kraftausdrücken in Gedichten.

Lesungen & Angst

Wie in der Einleitung erwähnt, klinge ich Gedichte vorlesend völlig anders als im Alltag sprechend. Aus mir nicht wirklich ersichtlichen Gründen, außer vielleicht der deutlicheren Betonung der einzelnen Silben, klinge ich bei Lesungen wie ein Radiosprecher aus den 1950er Jahren, aber mit einer verschmitzten, moderneren Note, weil meine Texte diese erfordern. Das ist natürlich kein Problem, nur eine Feststellung. Problematischer und mit Stimmung und Stimme zusammenhängend ist meine Angst vor Lesungen. Ich spreche nicht gern vor Menschen, spreche manchmal generell nicht gern, und werde leise, sobald ich bemerke, dass mehr als eine Person zuhört.

Warum erzähle ich das? Möchte ich authentischer wirken? Vielleicht. Vielleicht möchte ich mich aber auch pushen, wenn ich jetzt nachtrage, was ich zu tun gedenke, um in Zukunft Lesungen halten zu können:

  • Schritt 1: Texte laut vorlesen, wenn ich allein bin.
  • Schritt 2: Texte laut vorlesen und mich dabei filmen.
  • Schritt 3: Aufgenommene Lesungen, die geglückt sind, hochladen und teilen.
  • Schritt 4: Online Lesungen zu Zeiten, in denen wahrscheinlich niemand zusehen wird.
  • Schritt 5: Lesung (online oder live) vor Freund*innen.
  • Schritt 6: Online Lesungen halten zu Zeiten, in denen potenziell Leute zusehen könnten.
  • Schritt 7: Schritt 6, aber mit Vorankündigung, oder: eine richtige Online-Lesung.
  • Schritt 8: Live-Lesung.

Einzelne Schritte könnte man austauschen oder überspringen, aber grundsätzlich ist das mein hier mein Plan hin zur ersten richtigen Lesung. Da ich bereits mehrfach Angebote bekommen habe, Lesungen zu halten, sollte ich langsam mal loslegen.

Hinweis: poesie.exe | Rezension

Hinweis auf eine Rezension des Gedichtbands “poesie.exe” beim Buchensemble.

Eine Rezension des Gedichtbandes poesie.exe von Herausgeber Fabian Navarro ist seit heute online:

Wenn Skynet dichtet: poesie.exe

Lyrik. Mehr nicht.

Über das Lesen und Schreiben von Gedichten sowie die Notwendigkeit der Lyrik.

Vor wenigen Tagen wurde beim Buchensemble meine Rezension zum Gedichtband Rückkehr der Schiffe von Hilde Domin veröffentlicht: Wunderbare Ungereimtheiten. Das nehme ich zum Anlass, um über Gedichte zu schreiben. Warum ich sie lese, warum ich sie schreibe und warum sie immer geschrieben werden sollten.

Dunkle Vögel, dunklere Gefühle

Für mich fing alles mit The Raven von Edgar Allan Poe an, erzähle ich mir selbst. Das ist jetzt ein halbes Leben her, 20 Jahre. Damals ging es mir schlecht. Irgendwie bin ich auf The Raven gestoßen oder wurde darauf aufmerksam gemacht. Das Gedicht gefiel mir, weil es so düster und traurig ist. Es passte. Von Poe aus suchte ich nach anderer Lyrik und fand Baudelaire, Blake, Lord Byron, Trakl und weitere. Außerdem versuchte ich mich selbst an Gedichten, zumeist unter so schönen Titeln wie Auf himmlischen Wogen (Das Leben ist Dreck) oder Mein Besitz heißt Schmerz. Zugegeben, etwas theatralisch.

Wenn ich heute diese Texte überfliege – sie detailliert zu lesen, ist mir unangenehm –, fallen mir zwei Begriffe ein: Theatralik und Unbegrenztheit. Theatralik aus offensichtlichen Gründen und Unbegrenztheit aufgrund fehlenden Stils, fehlender Einschränkungen, Begrenzungen eben: Rhythmus, Wegschneiden überflüssigen Materials, Ausradierung störender Wiederholungen. Verknappung erschafft meist die besseren Gedichte. Doch das wusste ich damals noch nicht. Überarbeitung war ein Fremdwort.

Alte Milch, natürlich

18 Jahre später habe ich den ersten Gedichtband veröffentlicht. Moment, das stimmt nicht ganz. Irgendwann in Teenager-Jahren hat es ein kleines Buch gegeben, das ich mit Hilfe eines Freundes kompiliert, gestaltet und gedruckt hatte. Ausgesprochen unprofessionell und kitschig, aber immerhin vorhanden. 18 Jahre später also folgte der erste richtige Gedichtband mit Alte Milch. Am 02.10.21 feiert diese Veröffentlichung bereits den 2. Jahrestag. Es freut mich noch immer über alle Maße, wenn mir Leser*innen von ihrer persönlichen Verbindung zu meinen Gedichten berichten. Das war es, was ich mir erhofft hatte. Noch schöner wäre lediglich, würden noch mehr Menschen Alte Milch kaufen und lesen.

Hermetische Lyrik und Dichtmaschinen

Es gibt Gedichte, deren Inhalt sich nicht (sofort) erschließt. Vermutlich schreiben viele Menschen in gewisser Weise hermetische Lyrik, ohne es zu wissen, weil sie über sich selbst und ihre Erfahrungen schreiben, deren Kenntnis wiederum ausschlaggebend für das Verständnis der Texte ist. Auch ich mache das gelegentlich. Kryptisch dargestellte Erfahrungen und Themen erwecken meiner Meinung nach trotzdem passende Stimmungen und oft auch Ideen. Sie lassen Leser*innen nicht völlig ahnungslos und frustriert zurück, sondern bieten mehr Raum für Interpretation und emotionales Verständnis als deutlich formulierte Gedichte.

Paul Celan, den meisten am ehesten bekannt durch das Gedicht Die Todesfuge, schrieb später viel hermetische Lyrik, für deren Verständnis derart viel Vorkenntnis fachlicher Zusammenhänge als auch biographischer Details vorhanden sein musste, dass die Gedichte auf die meisten Leser*innen wie kryptischer Unfug wirken können. Ich selbst sitze manchmal davor und bewundere sie wie Rätsel, die ich niemals lösen können werde. Doch es steckt Sinn darin und dahinter, und genau das macht sie spannend.

Jetzt suche ich einen Vergleich zu von Maschinen produzierter Lyrik, die sich äußerlich oft ähnlich gibt, aber eben keine tieferen Gedanken verbirgt. Maschinenlyrik versteckt das Künstlerische in der Erstellung der Produktionsweise durch einen Menschen sowie in der völligen Freiheit der Interpretation durch die Leser*innen, weil das Verständnis 100 % frei ist, weil es einfach keinen intendierten Sinn gibt. Das gilt natürlich nur, sofern die Menschen, die hinter den Produktionsmechanismen stehen, nicht eingreifen, sortieren, Überschriften wählen und nachträglich Sinn stiften.

Wer sich für Gedichte interessiert, die von Maschinen, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz oder anderweitig nicht-menschlich entstehen, könnte beispielsweise poesie.exe von Herausgeber Fabian Navarro lesen. Ich konnte durch das Buch und gerade durch die Erklärungen im hinteren Teil sowie online viel lernen.

Lyrik als literarischer Punk

Kaum jemand wird behaupten, dass Gedichte keinen Platz in der Literatur hätten oder haben sollten. Dennoch kann so gut wie niemand vom Dichten leben. Immer mal wieder schmücken sich große Verlage mit Gedichtbänden, der Nobelpreis geht an Dichter*innen oder ein Großevent wird durch ein gelesenes Gedicht anspruchsvoller gemacht. Das sind Sonderfälle. Im literarischen Alltagsbetrieb ist Lyrik absoluter Underground.

Da ich noch immer die Denke, dass alles, was sich gut verkauft, irgendwie schlecht sein muss, im Hinterkopf habe, was zwar oft bewiesen wurde, aber in der Allgemeinheit seiner Aussage Quatsch ist, gefällt mir die Außenseiterposition der Lyrik. Seht mich an und staunt, ich bin ein Mann, der Gedichte schreibt! Blablabla. Es ist schade. Es steckt viel Arbeit in Gedichten – und wenn wir schon dabei sind, natürlich auch in Kurzprosa –, welche fair entlohnt gehört. Leider wird das Schreiben von Gedichten häufig als Liebhaberei, als Hobby angesehen. Generell halte ich die Meinung, dass Schreiben (ob nun Prosa oder Lyrik) allgemein eine Art Hobby wäre, für das man gelegentlich bezahlt wird, für eine Frechheit. Ich bin gerne Außenseiter, aber ich möchte auch nicht degradiert werden.

Lesen und schreiben, was gelesen und geschrieben gehört

Wir alle kennen diese Sätze in Romanen, die man unterstreichen oder herausschreiben möchte, die uns mehr sagen als die 20 Seiten davor und die nächsten 20, weil sie uns berühren, weil sie uns widerspiegeln, weil ihre Formulierung etwas in uns weckt. Gedichte sind nicht nur gedichtete, sondern besonders verdichtete Texte. Sie ziehen zusammen und erlauben dadurch Weite. Ein gutes Gedicht bringt Sätze wie die beschriebenen in größerer Häufigkeit, vielleicht sogar von Anfang bis Ende ohne Unterlass, weil es ein Konzentrat ist aus dem, was in einem ganzen Roman stecken kann. Nicht Handlung, sondern Geist und Herz.

Ich habe anfangen, Gedichte zu schreiben, weil sie ein Leben und eine Anhäufung von Problemstellungen besser beschreiben konnten als ich sie zu verstehen vermochte, weil sie ein Übermaß an Emotionen griffen, auswrangen und in dickflüssigen Tropfen aufs Papier gaben, weil sie ausdrückten, was ich nicht sagen konnte, wollte, durfte. Auf der Suche nach solchen Kondensationen von Größerem schreibe ich noch heute, und ja, um Dinge zu verarbeiten. Noch heute. Genau deshalb lese ich auch Gedichte. Ich suche die zähen Tropfen, die andere aus ihren Leben gewrungen haben, um meines zu bereichern, meine Perspektiven zu ändern, mich zu lehren, dass auch andere Menschen Tiefe besitzen, wertvoll sind, Gedanken haben, die meine rechtfertigen in all ihrer Zerbrechlichkeit. Ich lese Lyrik, um mich selbst zu finden.

Warum Gedichte gelesen und geschrieben gehören, habe ich damit beantwortet. Weil es notwendig ist. Weil wir sie brauchen. Weil sie in uns greifen und uns herausholen, befreien, uns erlauben, wir zu sein und uns dabei ein wenig zu verstecken, nur so viel, dass wir uns öffnen und atmen können.

Hinweis: Rückkehr der Schiffe. Rezension

Hinweis auf die Rezension des Buches “Rückkehr der Schiffe” von Hilde Domin beim Buchensemble.

Meine erste Lyrik-Rezension wurde auf dem Buchblog vom Buchensemble veröffentlicht. Es geht um das Buch Rückkehr der Schiffe von Hilde Domin.

Wunderbare Ungereimtheiten – Rückkehr der Schiffe

Ton und Entfaltung: Lyrikfetzen

Über das Gedicht “Indischer Falter” von Hilde Domin und das Antwortgedicht “Entfaltung”, inklusive Tonaufnahmen.

Frauen lesen

Vor einer Weile musste ich feststellen, dass mein Bücherregal zum allergrößten Teil mit Werken von Männern gefüllt ist. Also habe ich etwas recherchiert, mir eine Liste mit Autorinnen erstellt, deren Bücher für mich ansprechend schienen, und habe eingekauft. Eines der Bücher, das ich gekauft habe, ist Rückkehr der Schiffe, ein Gedichtband von Hilde Domin.

Einschub: Tonaufnahmen

In der Anfangszeit meines Internetauftritts hatte ich einen Youtube-Kanal mit Namen Sprachnachrichten aus dem Kellerloch (namentlich angelehnt an Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch). Für den Kanal hatte ich Gedichte und Kurzgeschichten eingelesen und Videos dazu produziert. Leider fand sich so gut wie gar kein Publikum und die Arbeit war viel zu zeitaufwändig, um sie weiterzubetreiben. Daher konzentrierte ich mich stattdessen aufs Schreiben, auf den Blog und andere Projekte. Neulich habe ich mein Mikrofon doch wieder herausgekramt, zuerst für die Podcast-Folgen von Kia Kahawas Autor*innen-Reihe (Unser Schreibprozess; Bücher- und Leseempfehlungen; Buch- und Autorenmarketing) und dann für zwei weitere Aufnahmen.

Indischer Falter

Eines der Gedichte, die mir in Die Rückkehr der Schiffe besonders gut gefallen haben, ist Indischer Falter. Das Gedicht habe ich eingesprochen:

Der Text hat einige Fragen in mir aufgeworfen. Hilde Domin legt den Grund der menschlichen Existenz in die Aufnahme von Schönheit in uns, damit wir sie weitertragen. Wir sollen Augenblicke und schöne Erinnerungen aufnehmen, sie mit uns tragen und auf diese Weise lebendig halten. Das ist eine sehr lyrische Idee und gefällt mir. Dann aber habe ich mich gefragt, ob das nicht das Gleiche ist wie die Sinnlosigkeit oder Absurdität des Daseins with extra steps (wie Morty sagen würde). Ja, die Schönheit wird bewahrt, aber nur bis zum Tod. Mehr Sinn gibt das unserem Dasein nicht, sondern „nur“ mehr Schönheit. Für wen oder was bewahren wir die Schönheit und bewahren wir sie wirklich?

Entfaltung

Meine Gedanken habe ich in einem eigenen Gedicht zusammengefasst, das als eine Art Antwort auf Hilde Domins Gedicht Indischer Falter zu verstehen ist. Rhythmus, Wortwahl und allgemeinen Stil habe ich anzupassen versucht. Der Titel Entfaltung bezieht sich natürlich auf den Falter im Titel von Domins Gedicht, ist ein Wortwitz, wenn man so will. Hier die Tonaufnahme meines Gedichts:

Wenn wir nichts als
Schalen sind
Vielleicht
Die Schönheit schöpfen
Um sie mitzutragen
Bis sie mit uns vergeht


Für wen bewahren wir
Für was bewahren
Wir sie auf?
Wer nimmt uns diese Schönheit
Ab?


Der alte Mann
Der zusammensackt und stirbt
Mit ihm stirbt der Schmetterling
Doch das interessiert
Den Schmetterling nicht


Vielleicht wird nichts verlangt
Von uns
Gar nichts
Während wir hier sind


Wir erinnern – wir werden vergessen

Nur Sein, kein Verlangen

Mit etwas Abstand zu beiden Gedichten würde ich noch die These in den Raum werfen, dass nichts und niemand (im Sinne einer höheren Macht) etwas von uns verlangt, wir aber auf eine spezielle Weise sind. „Gemacht/geschaffen sind“ kann ich nicht schreiben, da das wiederum eine machende/schaffende Instanz impliziert. Wir haben uns entwickelt zu dem, was wir sind, und wir sind so, dass wir Schönheit aufnehmen und mit uns tragen. Diese Schönheit kann uns eine Ahnung von Sinn schenken oder eine Hoffnung auf etwas Größeres oder einfach einen Trost. Wir sind so, dass wir Schönheit entdecken und empfinden können, obwohl sie keine natürliche Eigenschaft ist, sondern eine Interpretation. Ohne diejenigen, die etwas schön finden, ist nichts auf der Welt schön. Es gibt keine Schönheit ohne uns. Vielleicht ist der Sinn der menschlichen Existenz nicht das Bewahren von Schönheit, sondern ihre Erschaffung. Dann wiederum kann man das Gleiche vom Konzept des Lebenssinns behaupten. Nur Menschen fragen nach einem Sinn. Außerhalb unseres Denkens existiert kein Sinn. Man kann schließen, dass es keinen Sinn im Leben gibt, oder man kann schließen, dass wir dem Leben Sinn geben.

Kritik, Inspiration, Selbstkritik

Selbstverständlich ist ein eigenes Gedicht als Antwort auf eines von Hilde Domin nicht als Kritik zu verstehen. Mich hat Indischer Falter berührt und inspiriert. Ich fürchte auch nicht, dass irgendjemand eine solche Verarbeitung als Angriff werten würde. Was ich allerdings fürchte oder womit ich mich schwertue, ist die vermeintliche Anmaßung als unbekannter Autor mich am Text einer „richtigen“ Autorin zu vergreifen. Hilde Domin ist nicht irgendwer, aber man könnte meinen, ich sei es schon (oder noch). Doch sich selbst niederzumachen, führt keine*n weiter. Ich bin Künstler und setze mich künstlerisch mit der Welt auseinander. Kein*e andere*r Künstler*in wird da Einspruch erheben wollen, denke ich.

Tage werden eins (Quarantäne): Ein Blogeintrag in 2 Etappen

Ein Gedicht über den Verfall und was dahinter steckt.

Tag 1:
aufstehen warten essen
hinsetzen warten essen
hinlegen
schlechte träume

Tg 3:
aufstehen warten essn
hinsetzn wart esn
hnleenschräum

…:
awehwehstrme

Paul Celan, mit dem ich mich nicht vergleichen möchte, hat einmal ein Gedicht geschrieben, das ich vergessen habe, nachdem es in der Uni behandelt worden war. Im Laufe des Textes brach das Satzgefüge weg, die Wörter lösten sich auf, alles verhallte in traurigem Kauderwelsch, das in einen Abgrund zu fallen schien. Ich fühlte mich an weit ältere Gedichte erinnert, deren äußere Form beispielsweise die eines Kreuzes war und deren Inhalt passend dazu christlich.

Zurzeit sitze ich wie viele andere allein in meiner Wohnung und sollte es doch eigentlich gewohnt sein, sitze ich doch häufig hier allein. Die Zeiten sind jedoch andere. Genau darum geht es: Zeit. Wir gliedern unsere Lebenszeit in Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden und werden immer kleiner dabei. Diese Gliederung ist künstlich und doch nicht ganz. Es gibt Helligkeit und es gibt Dunkelheit, also gibt es Tage. Es gibt Sommer und es gibt Winter, also gibt es Jahre. Aber wenn ich nicht am Donnerstag zum Laden für lokale Lebensmittel gehe, weil dann die neuen Milchprodukte geliefert werden, weiß ich nicht, dass es Donnerstag ist. Wenn niemand weiß, dass Donnerstag ist, gibt es keinen Donnerstag. Ich bin für ca. 2 Wochen versorgt, also gehe ich nicht raus.

Von anderen habe ich gehört, was mir auch passiert: Wir verlieren die Zeit, wissen nicht mehr, welchen Wochentag wir haben. Wir wissen, wann wir Hunger haben und wann wir schlafen sollten, aber die Bezeichnung von Tagen ist eine soziale Sache. Wir bezeichnen bestimmte Tage mit bestimmten Namen, um mit anderen besser kommunizieren zu können. Kommunizieren wir nicht mit anderen, bezeichnen wir keine Tage mit bestimmten Namen. Wir vergessen.

Das, was sonst Freiheit oder Ruhe sein könnte, fühlt sich an wie Gefangenschaft, wie ein Zeitbrei. Wir stehen auf, beschäftigen uns, essen, legen uns schlafen und beginnen von vorn. Alles wird eins, und über allem droht Ungewissheit, Sorge und Angst. Wir lenken uns ab und verschieben die Furcht in unsere Träume. Dort lenken wir uns nicht mehr ab, sondern sind ganz da für sie.

Ich glaube, dass es zurzeit mehr Albträume auf der Welt gibt als sonst. Das scheint mir nur natürlich in einer solchen Zeit. Unsicherheit, Sorge, Angst, auch vor der Auflösung (des Staates oder der eigenen Person, wenn die Regale leer bleiben sollten), dominieren die Tage. Darum geht es in meinem Gedicht. Das monotone Warten auf bessere Zeiten wird zu einem kindlichen Gebrabbel, das sich über Schmerz oder dunkle Träume zu beschweren scheint, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der ersten drei Zeilen und den zusammenschrumpfenden, stumm werdenden Träume(n).

16 Tage später:

Den Blogeintrag, wie er oben steht, habe ich so am 21.03.2020 verfasst und dann für eine mögliche Überarbeitung zur Seite gelegt. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt. Inzwischen haben sich viele an die neue Situation gewöhnt, glaube ich. Auch meine Ängste wurden weniger, auch wenn sie nicht verschwunden sind, und meine Sicht auf mein Gedicht ist eine andere. Was mich stört, ist die Geschwindigkeit. Ein fast vollständiger Verfall in drei kurzen Strophen wirkt wie ein Absturz und nicht wie ein Hineingleiten in die Auflösung unserer gewohnten Strukturen. Doch war es nicht genau das, was passiert war? Dass beides zugleich oder wenigstens in kurzer Folge passierte? Erst glaubten die wenigsten, dass es überhaupt eine Krise gäbe. Man machte sich lustig über Hamsterkäufe oder ärgerte sich ein wenig. Dann kam es zu mehr Käufen dieser Art, Szenen tauchten auf, in denen Leute sich um Toilettenpapier stritten, und dann kamen die Tipps, Einschränkungen und schließlich hier und da sogar Ausgangssperren. Das ging sehr schnell. Die gewohnten und unverwüstlich scheinenden (weil so gut wie nie hinterfragten) Strukturen wurden verwischt, nicht weggewischt oder zerstört, aber doch dünner. Mein Gedicht widersetzt sich meinem Gefühl für Timing, aber es scheint in die den Moment zu passen, in dem es entstanden ist.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Gedicht ein sprachliches Konstrukt ist. Die demonstrierte Auflösung ist ein geplanter und sauber exekutierter Akt, kein tatsächlicher Verfall. Auch das passt zu unserer Situation. Trotz des Anscheins von Zusammenbruch hier und dort und einem Gefühl von Orientierungsverlust gibt es weiterhin funktionierende Regeln und klare Strukturen. Menschen halten einander aufrecht und damit die wichtigsten und grundsätzlichen Strukturen der Gesellschaft: Die zwischenmenschlichen Verbindungen.

Heute finde ich mein Gedicht nicht mehr besonders schön oder gelungen, aber ich halte es für aussagekräftig im Bezug auf meine Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt und damit für die Situation anderer zu diesem Zeitpunkt. Denn so gerne ich anders bin als andere, ist es doch ein Fakt, dass meine Gefühle nicht einzigartig sind. Was ich fühle, fühlen auch andere. Das ist nicht nur der Grund, warum Kunst funktioniert, sondern auch ein Grund dafür, dass wir in Krisenzeiten zusammenrücken und nicht auseinanderfallen.

Göffel

Über das Wort “Göffel” im Gedicht “Archäologie” im Lyrikband “Alte Milch”.

Göffele albern durch mein Fleisch
Weil mein Geist nicht greifbar ist

Ich mag neue und seltsame Wörter. Deshalb mochte ich den Begriff Göffel sofort, als ich ihn zum ersten Mal gehört hatte. Ein Göffel ist eine Mischung aus einer Gabel und einem Löffel, dafür gedacht, dass man beispielsweise beim Camping weniger mitschleppen muss und doch alles Nötige parat hat.

Die oben zitierte Zeile gehört zum Gedicht Archäologie aus dem Gedichtband Alte Milch. Im Text geht es um Selbstsuche, wie man unschwer bereits in der ersten Zeile erkennen kann. Es geht darum, wie das lyrische Ich in sich selbst nach sich selbst sucht wie Archäologen in der Erde und in Felsen nach Spuren der Vergangenheit stöbern. Das Problem ist allerdings, dass es für eine ausführliche Selbstsuche meist am richtigen Werkzeug mangelt. Wie spürt man die Ursachen der eigenen Probleme und Entwicklung auf? Da man zu häufig die psychologischen und erinnerungstechnischen Spitzhacken und Pinsel nicht zur Hand hat, greift man zum falschen Equipment, das entweder nicht zureichend für die Aufgabe ist oder bei der Suche das Findbare zerstört und verklärt. Drogen beispielsweise wurden von vielen Befürwortern als Mittel der Selbsterkenntnis genutzt und gepriesen. Das kann sicherlich funktionieren, aber nicht bei allen und sicherlich nicht zwangsläufig. Durch die Drogen kann man sich auch schlicht abstumpfen und Entwicklungen und Erinnerungen begraben. Auch kann man mit Drogen neue Verknüpfungen herstellen, die die Vergangenheit in neues Licht stellen, das die Sicht verklärt. Diese neue Belichtung ist aber auch, was zur Erkenntnis führen kann. Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Suche, die ich mit Erfolgen und Misserfolgen durchgeführt und schließlich aufgegeben habe.

Durch viel Nachdenken kann man ebenfalls zum Erfolg kommen, sofern man sich nicht im Kreis dreht, sich selbst auf falsche Fährten führt oder Dinge rationalisiert, die gefühlt werden müssten, und dabei vergisst, dass die Rationalisierung bereits Teil des Problematik sein kann, deren Ursachen man aufzuspüren sucht. Man sollte also auch über das Denken nachdenken und zwar kritisch. Auch diese Methode, die wohl die beste ist, scheint also nicht ideal zu sein. Manches, das unbewusst stattgefunden hat oder stattfindet oder verdrängt wurde, ist auf diese Weise gar nicht auffindbar.

Der Göffel im Gedicht repräsentiert die unzureichenden Mittel, die die meisten zur Verfügung haben, um zur Selbsterkenntnis zu kommen. Das Wort an sich wirkt bereits albern (und als Verb erst recht) und in Verbindung mit Fels-Bildern im Rahmen des Archäologe-Themas scheint der gesamte Versuch lächerlich. Vergleicht man die Gesamtheit des eigenen Geistes mitsamt aller Erinnerungen und Entwicklungen mit einem Berg, in dem irgendwo das Geheimnis des Selbst verborgen ist, und die für die Aufgabe, den Berg abzutragen und zu durchsuchen, nur ein Göffel zur Verfügung steht, spürt man die Verzweiflung einer Sisyphos-Aufgabe. Hinzukommt, dass es absolut keine eindeutigen Hinweise darauf gibt, wo man mit der Suche ansetzen sollte. Der Geist ist nicht greifbar. Trage ich einen Berg von der Spitze her ab oder von unten? Es scheint manchmal leichter, wenn man ihn einfach sprengen könnte, oder? Doch das darf keine Option sein. Es wäre niemand mehr da, der den Schutthaufen durchsuchen könnte. Eine solche Sprengung, die einem Suizid bedeutete, wird durch das in der dritten Zeile erwähnte Küchenmesser angedeutet.

Ein Göffel ist jedoch nicht nur ein unpraktisches Mittel, um Felsen zu abzutragen, sondern auch ein praktisches Hilfsmittel, um Nahrung zu sich zu nehmen, sich also zu stärken, und vor allem bedeutet er leichtes Gepäck. Alles Unnötige muss abgelegt werden auf der großen Suche, wie die Felsen, die man in den Abgrund stößt, um die wenigen Edelsteine oder Kohleflöze der Erkenntnis – ja, ich weiß, ein komisches Bild … – freizulegen.

Bei aller Schwierigkeit darf man nicht vergessen, dass der Aufbruch zur Suche nach sich selbst und damit nach Zufriedenheit und Freiheit bereits ein Sieg ist, und dass diese Suche schon Informationen in sich trägt, denn bei weitem nicht jede*r macht sich die Mühe einer solchen Lebensaufgabe. Dazu fällt mir ein Zitat von Hermann Hesse aus Demian ein: „Nichts ist dem Menschen mehr zuwider als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt.“

Ich bin der Meinung, dass Selbsterkenntnis nicht nur zu einem besseren Leben für einen selbst führt, sondern auch zu einem besseren zusammenleben, mehr Verständnis, besserer Kommunikation, weniger Vorurteilen, Hass und Gewalt. Es ist eine Reise, die jede*r für sich gehen muss, damit alle gemeinsame Vorteile daraus ziehen können, fair und gerecht.

Alte Milch: Stadt Land Fluss

Über die Hintergründe des Gedichts “Stadt Land Fluss” im Lyrikband “Alte Milch”.

In diesem Artikel wird es um das Gedicht Stadt Land Fluss aus meinem Gedichtband Alte Milch gehen. Damit ihr nicht blättern müsst, serviere ich es euch gratis:

Hänge voller Menschentrauben
Zertreten zu erlesenstem Weinen
Im Gleichschritt im Berufsverkehr

Steine und Stahl bewalden den Himmel
Erwachsen aus kindlichem Boden
Zerkratzen die Neurodermitis der Wolken

Doch Menschen können noch schwärmen
Gemeinsam für Wunder wie Heuschrecken
In millionenfacher Einzigartigkeit

Angefangen hat alles mit dem Wort „Menschentraube“, das ich irgendwo aufgeschnappt hatte. Es ist ein schönes Wort. Mein Verstand ging sofort auf Reisen und assoziierte wild los. Was macht man aus Trauben? Wein. Wein wächst an Hängen, auf Weinbergen, die auf uns Stadtmenschen oft idyllisch und beinahe natürlich wirken. Um Wein aus Trauben herzustellen, werden beziehungsweise wurden sie in großen Bottichen zertreten. Mit dem Wort „Wein“ verband ich außerdem sofort „Weinen“. Damit war das erste Bild, die erste Strophe, entstanden. Eine Mischung aus Stadtbild und Weinproduktion. Die zweite Zeile ist also keineswegs grammatikalisch falsch, obwohl man durchaus darüber stolpern soll. In der Stadt werden Menschen hin und her geschoben, es ist beengt und manchmal beklemmend. Die Anonymität ist deprimierend und der Zwang, unnatürlich scheinende Arbeiten zu erledigen, entfernt uns ein Stück weit von unseren Ursprüngen und kann zu einem sinnentleerten Leben führen. Ungefähr solche Gedanken wollte ich mit der ersten Strophe provozieren. Übrigens wurden früher Weintrauben auch gern zum Klang von Musik zertreten, um einen gewissen Rhythmus und Gleichschritt herbeizuführen.

Schaut man sich in Großstädten um, wandert der Blick schnell nach oben. Hochhäuser wachsen wie Wälder aus dem Boden. In der ersten Zeile der zweiten Strophe ist wieder ein Vergleich zwischen Stadt und Natur – Wald versus Architektur. Die zweite Zeile stellt den kindlichen Boden dem (Er)wachsen der Gebäude gegenüber. Kindlichkeit steht gegen Erwachsensein, also Naturzustand gegen Zivilisation oder Entwicklung. Die höchsten Punkte der Stadt stoßen bereits an die Wolken, sie kratzen daran, wie ja das Wort „Wolkenkratzer“ sehr schön ausdrückt. Einerseits wollte ich auf Wolkenkratzer anspielen und andererseits mit der Neurodermitis, die häufig stressbedingt ist, auf das nervöse Leben im Schatten dieser Riesen sowie auf die angegriffene Natur, die unter der menschlichen (und besonders der technischen) Entwicklung gelitten hat. Weiter zu kratzen ist kaum ein Weg zur Heilung, sondern verschlimmert das Problem noch, wenn es auch kurzzeitig erlösend wirken mag. Ich denke an die Schönheit mancher Städte, die zu verschleiern versucht, was auf dem Weg ihrer Entstehung alles zu Bruch gegangen ist.

In der dritten Strophe bleiben wir bei Naturbildern, hier das Schwärmen der Heuschrecken. Heuschrecken sind nicht nur eine biblische Plage, sondern auch eine reale. Sie tauchen in ungeheurer Anzahl auf und fressen alles kahl. Ihre Anwesenheit ist das Ende der existierenden Pflanzenwelt. Sie erholt sich irgendwann, jedoch erst, wenn die Heuschrecken wieder verschwunden sind. Die menschlichen Heuschrecken werden allerdings nicht so schnell verschwinden und die Natur ist in vielen Bereichen längst irreparabel zerstört. Wir fressen die Erde leer und hinterlassen eine Spur der Verwüstung – manchenorts wortwörtlich. Aber es steckt noch mehr in der dritten Strophe. Schwärmen kann auch für Begeisterung stehen. Trotz der grauen Welt um sie herum träumen die Menschen noch und hoffen auf Wunder, auf Erlösung vielleicht, einen Lottogewinn, das große Los oder die eine große Liebe. Wir träumen uns weg und fressen doch weiter wie Heuschrecken. Unsere westliche Erziehung hat uns alle gelehrt, dass wir einzigartig seien. Wir alle haben persönliches Glück und Erfüllung verdient, und doch scheinen wir alle die gleichen Fehler zu begehen. Nur selten verstehen wir uns selbst als Teil von etwas Größerem, von der Menschheit oder der Natur. Uns ist der Blick für das große Ganze verloren gegangen. Das ist wohl ein Grund dafür, dass kaum jemand bereit ist, für den Umweltschutz oder die Abwendung des Klimawandels Einschränkungen auf sich zu nehmen. Ich bin einzigartig, ich habe mir das verdient. Und weil so viele so denken, ändert sich wenig. Versucht die Politik, etwas zu ändern, fühlen wir uns in unserer Freiheit und Individualität eingeschränkt. Unsere Einzigartigkeit ist zu häufig eine Tarnung unseres Egoismus’.

Strophe Drei wird mit einem die vorherigen Strophen widersprechenden Doch eingeleitet, das ein Gefühl von Hoffnung aufkommen lässt, welches sich durch die drei Zeilen zieht. Liest man jedoch genauer, wird schnell deutlich, dass es sich um eine falsche Hoffnung handelt, ein künstlich hergestelltes Gefühl, um von der Wahrheit abzulenken. Denn die Wunder, für die die Menschen schwärmen, können keine wahren sein oder wenigstens nicht ihre eigenen. Sie agieren noch immer wie ein Schwarm von Insekten, der gemeinsam in irgendeine Richtung drängt, ohne zu wissen warum. So gelesen, wären sämtliche echten Wunder in Gefahr, bedroht durch die menschliche Heuschreckenplage, die alles in ihrem Weg zerfrisst und dann weiterzieht – wie sie Moden, Künstler oder politische Trends kurz aufnimmt und dann wieder wegwirft und vergisst. Wir sollten unsere wertvolle Einzigartigkeit nutzen, uns umsehen und selbst entscheiden, was wir aus der grundsätzlichen Aussage „Hier läuft doch etwas falsch“ machen.

Ich muss zugeben, dass ich selbst mehr träumerische Naturfantasien im Kopf hatte, als ich den Text verfasste, und weniger eine konkrete Forderung nach mehr Bewusstsein für die eigenen Taten und ihre Auswirkungen auf die Umwelt. Eine Lesart der letzten Strophe, die etwas simpler ist, könnte man formulieren als: Vielleicht sind wir gar nicht so besonders und vielleicht, nur vielleicht, tut uns ein bisschen Demut hier und da ganz gut. Dieser Aussage gibt ein weiteres zivilisatorisches und städtisches Phänomen Rückendeckung: Die Werbung. Werbung ist die Fortsetzung der Propaganda mit anderen Zielen (um mal ein Zitat von Carl von Clausewitz abzuwandeln). Täglich werden wir bombardiert mit Bildern, Farben, Gerüchen und Tönen, die uns dazu bringen sollen, bestimmte Produkte oder insgesamt mehr zu kaufen, und es wirkt. Es wirkt bei jedem von uns. Die Gemüseabteilung im Supermarkt hat einen Fußboden in Holz-Optik, weil wir das mit Natur in Zusammenhang bringen, im Laden läuft Musik, die darauf abgestimmt ist, uns bessere Laune zu machen, die Wege sind so angelegt, dass wir an allen Angeboten vorbeigehen müssen, Geruchsstoffe werden verbreitet, die uns unbewusst Appetit machen, und an der Kasse liegen unumgänglich Kleinigkeiten, die wir betrachten und auf die wir Lust bekommen, während wir brav in der Schlange warten. Dass wir alle mehr oder weniger darauf hereinfallen, zeigt doch, dass wir alle irgendwie gleich sind – ein Dämpfer für unsere absolute Einzigartigkeit. Was mancher als originellen eigenen Gedanken empfindet, hat er vorher hundertfach in Werbespots vermittelt bekommen. Wir sind Produkte unserer Umwelt. Wie gesagt, ich schließe mich keinesfalls aus.

Im Gegensatz zu vielen anderen meiner Gedichte ist Stadt Land Fluss sauber strukturiert in drei Strophen a drei Zeilen, wie eine am Reißbrett entstandene Stadt. Innerhalb der Strophen aber stolpert man hier und da, das Tempo ändert sich leicht, ein Fremdwort wird verwendet und außerdem eine grammatikalische Konstruktion, die man nicht erwartet. Es brodelt in den Städten, denn die Menschen sind noch immer zu einem guten Teil Tiere, die der lockereren Ordnung der Natur folgen und nicht dem strikten Gleichschritt der Zivilisation. Darüber darf man gerne nachdenken.

Alte Milch: Schwarzer Wasserfall

Über das Gedicht “Schwarzer Wasserfall” aus dem Lyrikband “Alte Milch”.

Nachdem neulich mit Definitionen ein kurzes und eher vergeistigtes Gedicht besprochen wurde, soll es heute um Gefühle gehen:

Schwarzer Wasserfall

Wenn die Stille schmerzt
Die einst gut tat
Ist ein neuer Punkt erreicht
Sie will nicht reden
Mich nicht hören
Sich nicht vernehmen lassen

Mein Chaos mein Lärm mein
Krach im Kopf in mir überall
Mein Kriegsgetöse im Herzen
Sie will mich nicht
Sehen hören fühlen
In ihrer Nähe haben

Es steigert sich zur Entropie
Weißes Rauschen ohne Frieden
Schwarzer Wasserfall
Sie will nicht mehr reden
Sie will nicht mehr
Sie will nicht

Nichts als schwarzlärmendes Wasser
Nichts als grausames Herzpochen
In grausamer Stille
Ich höre mich zu laut
Ich höre mich
Ich
Schwarzer Wasserfall

Wenn ich arbeiten möchte, aber unkonzentriert bin und ruhelos, stört mich Musik und Stille lässt die flatternden Gedanken widerhallen. Dann schalte ich White Noise ein – unspezifisches Hintergrundrauschen, wobei es sich um meinem Fall um die Geräusche eines Eisbrechers handelt (Motor, Wind, Wasser, knackendes Eis).

Es gibt Theorien über Weißes Rauschen und die beruhigenden oder konzentrationsfördernden Eigenschaften, aber Details sind hier nicht wichtig: bei mir wirkt es.
Manche Menschen wirken wie Weißes Rauschen, sie helfen anderen sich zu sammeln, geben ihnen einen Ort der Ruhe an ihrer Seite, verwandeln Kopfchaos in Ordnung und helfen, aus dem endlosen Wiederkäuen überflüssiger Gedanken vorm Schlafen ein leises Wiegenlied zu machen. Sie werden zu menschlichen Tempeln und zum Fokuspunkt innerer Ruhe. Natürlich ist das ein rein subjektiver Eindruck und schafft neben wohltuenden Urlauben von der Welt auch eine Abhängigkeit, die umso schmerzhafter zutage tritt, wenn der vorherige Tempel plötzlich nicht mehr Ruhe schenkt, sondern durch Schweigen quält. Denn um einem Menschen zu helfen, größere Ruhe in sich zu finden, muss man mit ihm sprechen. Nicht viel, nicht lehrerhaft, nicht urteilend, sondern fragend, voller Interesse und Mitgefühl. Man muss zuhören können, um einem Menschen den inneren Lärm abzunehmen, und man muss mit dem Menschen sprechen, um ihn zum Reden zu bringen.

Darum geht es im Gedicht Schwarzer Wasserfall, das Teil des Gedichtbands Alte Milch ist: Weißes Rauschen und Ruhe gegen Lärm, Gedankenchaos und Schweigen. Das lyrische Ich hat mit der Bezugsperson die „Stille“ verloren, „die einst so gut tat“ und ist allein mit dem, was übrig bleibt: „Weißes Rauschen ohne Frieden“, dem Gegenteil der vorherigen angenehmen Ruhe, einem „schwarzen Wasserfall“. Es ist vollständig auf sich selbst zurückgeworfen, was sich besonders in der letzten Strophe zeigt, wenn es nur noch das eigene „Herzpochen“ hört. In dem Dreischritt von „Ich höre mich zu laut“, „Ich höre mich“, „Ich“ wird das besonders deutlich, eine Reduktion, in der dennoch der innere Lärm unausgesprochen bleibt. Es gibt nur noch das chaotische Gedankenströhmen in endloser Abfolge, nur noch einen „schwarzen Wasserfall“.

Die Idee ist simpel und fast jede*r kennt dieses Gefühl. In diesem Gedicht geht es also nicht um tiefschürfende Gedanken oder ausgefallene Bilder, sondern um ein Gefühl, das vermittelt werden soll. Es geht um Unruhe, Verlorensein, Verlassensein und Einsamkeit.

Soviel zum Kern des Textes. Vielleicht noch ein paar Worte zur „Entropie“. Entropie zählt zu meinen Lieblingswörtern. Es handelt sich um einen Begriff aus der Physik. Im Grunde bedeutet es Chaos oder Zerfall, das Gegenteil von Ordnung. Jedes System, dem nicht genügend Energie zugeführt wird, gelangt in einen Zustand der Entropie, bis es vollends verschwunden ist. Hört ein Mensch auf zu essen, zu trinken und zu atmen, endet der Herzschlag, er stirbt und der Körper zerfällt. Eine Wohnung, die nicht geputzt und gepflegt wird, versinkt im Chaos. Personen und Haustiere, denen man keine Zeit und Energie in irgendeiner Form schenkt, verwildern. Man könnte also aus der Verwendung dieses Wortes allein Rückschlüsse auf die Beziehung des lyrischen Ichs und dem Ende der Partnerschaft ziehen. Wurden zu wenig Energie investiert? Zerfiel die Beziehung mit der Zeit? Oder bezieht man es lieber auf das lyrische Ich direkt und fokussiert sich auf den inneren Zerfall und das Chaos, das entstanden ist, weil die Energie und Zuwendung des Partners/der Partnerin fehlt?

Mit diesem Gedicht verbinde ich hauptsächlich Unruhe, wie man merkt. Dass es dennoch deutlich in vier Strophen gegliedert ist (dreimal sechs Zeilen und einmal sieben), kann als Hinweis auf die zerfallende Ordnung verstanden werden. Auch diese zerbricht langsam, da sich der „schwarze Wasserfall“ in der letzten Strophe einmischt (direkt nach dem dreischrittigen Zerfall des Satzes „Ich höre mich zu laut“) und die Aufteilung unsauber werden lässt. Alles zerfällt zur Entropie. Man könnte sagen, dass es das lyrische Ich neue Energie (und große Mühe) kosten wird, den Zerfall zu stoppen und aus der „grausamen Stille“ wieder Weißes Rauschen zu machen, aber es scheint nicht so, als würde es daran glauben.

Alte Milch: Definitionen

Über das Gedicht “Definitionen” aus dem Lyrikband “Alte Milch”.

Mit nur 14 Wörtern (inklusive Titel) ist Definitionen das kürzeste Gedicht in Alte Milch. Seine Kürze lässt es simpel erscheinen, durchschaubar auf einen Blick, aber so einfach ist es nicht. Ich wurde gebeten, ein paar Gedanken dazu aufzuschreiben und gehe der Bitte hiermit nach.

Definitionen

manche machen mich
zu einem
von euch

diese
zum beispiel

irren
ist menschlich

Ein Wesen außerhalb der menschlichen Sphäre, ein Unmensch, ein Monster, ein Außenseiter. So betrachtet sich das lyrische Ich in diesem Text. Was steht wirklich im Gedicht? Der Inhalt an sich ist sehr simpel und kann in zwei Sätzen ausgedrückt werden:

Manche allgemein anerkannten und existierenden Definitionen des Menschseins schließen mich (→ lyrisches Ich) in die Gruppe der Menschen mit ein. Ein Beispiel für eine dieser Definitionen lautet: Irren ist menschlich.

Da mehr nicht gesagt wird, muss es sich um einen dieser nervigen Texte handeln, bei denen man selbst denken oder zwischen den Zeilen lesen muss. Nicht alle Definitionen machen das lyrische Ich zu einem Menschen. Das heißt, dass es entweder manche Definitionen explizit ausschließen oder dass Definitionen für andere Wesen als Menschen existieren, die das lyrische Ich einschließen. Da die gewählte Definition ausgerechnet irren ist menschlich lautet, wird das lyrische Ich sich kaum für etwas Besseres halten als den Rest der Menschheit. Sein Ausschluss beinhaltet also keine Arroganz, sondern ein Gefühl von Minderwertigkeit. Das lyrische Ich fühlt sich hier nur durch sein Irren, also eine Verfehlung an sich, mit den anderen verbunden.

Die Perspektive ist eine distanzierte. Eine kühle Sprache ohne Ausschmückungen, keine Reime, keine Großbuchstaben, nicht einmal ein durchgehender Rhythmus. All das unterstützt die ereignislose Kühle und Ausgeschlossenheit des lyrischen Ichs. Es spricht die Leserschaft direkt an oder die Menschheit oder einfach eine Gruppe von Menschen, aber gleichzeitig bekommt man nicht das Gefühl, dass ein Dialog möglich wäre. Hier lässt sich kein Einstieg zu einem Gespräch finden, sondern ein Monolog wie er im Kopf stattfindet oder in einem Abschiedsbrief.

Die Grund- und Eigendefinition des lyrischen Ichs ist unmenschlich und minderwertig. Was macht es noch zum Menschen? Das Irren, also weitere Fehlerhaftigkeit. Doch bedeutet dies nicht auch einen Funken Hoffnung? Wenn sich die Menschheit (unter anderem) über fehlerhafte Schlüsse definiert und das lyrische Ich genau in diesem Punkt mit ihr übereinstimmt, besteht die Möglichkeit, dass alle oder wenigstens eine der Schlüsse, die es in diese Außenseiterposition gebracht haben, fehlerhaft sind. Man könnte noch weiter gehen. Eine Außenseiterposition aufgrund des Gefühls von Minderwertigkeit ist immer Kopfsache, fiktiv, eingebildet. Menschen sind nicht minderwertig, sie fühlen sich minderwertig. Es handelt sich also um einen grundsätzlichen Irrtum, der ganze Leben definieren und kontrollieren kann. Dieser Irrtum ist nicht selbstverschuldet und fast immer von außen aufgezwungen und dennoch nicht weniger inkorrekt.

Was bedeutet es, dass Irren menschlich sei? Es bedeutet, dass wir alle Fehler machen. Es bedeutet aber auch, dass wir befähigt sind, diese Fehler und Irrungen einzusehen und damit in der Lage sind, uns zu ändern und zu bessern. Dies gilt für diejenigen, die sich für weniger wert halten, und für auch für diejenigen, die sie dazu gebracht haben. Die Menschheit existiert seit jeher nach dem Prinzip trial and error: Eine Mutation, die sich durchgesetzt hat und dann das gleiche Prinzip auf Gesellschaften, Erfindungen und alle weitere Bereiche ausgedehnt hat. Im Kleinen führen wir es weiter, wenn wir Beziehungen durchtesten, hier und dort Dinge ausprobieren, unausgegorene Entscheidungen treffen oder uns anderweitig dumm verhalten. Trial and error. Jemandem das Selbstwertgefühl zu zerstören fällt eindeutig in den Bereich „error“, ganz egal was vorher versucht wurde. Sollte es sogar das Ziel gewesen sein, ist auch das Ziel ein Fehler. Seht es ein und fühlt es nach – es wird euch menschlicher machen.