Erschütterungen. Dann Stille.: Trümmer

Über die Kurzgeschichte “Trümmer” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Trauma, Suizid

Die begründete Ahnung, dass sich hinter der Lebensfassade anderer Menschen Höllen auftun könnten, fühlt sich grässlich an. Und doch bleibt den meisten von uns nur eine Ahnung, denn Wahrheiten tendieren dazu, sich desto seltener zu offenbaren, je schlimmer sie sind. Mehr als eine solche Ahnung einer furchtbaren Hintergrundgeschichte bleibt den Leser*innen der Geschichte Trümmer in Erschütterungen. Dann Stille. nicht als Erklärung.

In diesem Blogeintrag geht es um die Dinge, die man sieht, und solche, die verborgen bleiben. Spoiler sind unvermeidbar. Lest die Geschichte zuerst und dann diesen Text!

Was man sieht

Ein namenloser Protagonist zerstört die Welt, die er kennt. Moment, das ist schon interpretiert. Was man sieht? Ein namenloser Protagonist steht inmitten einer Explosion, die das Haus, in dem er aufgewachsen ist, zerreißt. Er selbst wird mindestens schwer verletzt, sein Tod wird am Ende angedeutet. Deutlich sind Freude und Friede im Angesicht des Untergangs zu sehen. Warum das alles? Wieso zur Hölle freut er sich so?

Was man hört

Die Explosion des Hauses ist keinesfalls der erste Anschlag des Protagonisten auf das Haus. Im Laufe seines Lebens verübte er mehrere, zunehmend ernsthaftere und erfolgversprechendere Angriffe. Zuerst sind es Feuchtigkeit und Schimmel, die jedoch das Gebäude nicht ruinieren können. Dann werden Türen und Fenster geöffnet, in der kindlichen Hoffnung, das Bild der Räuber, die ein ganzes Haus klauen, würde wahr. Vergebens. Am Ende des Rückblicks folgt die einzige Erklärung für die Zerstörungswut, welche über eine Geisteskrankheit hinausgeht: der Vater. Feuer, um Tränen zu trocknen. Denn das Haus sei des Vaters Leben gewesen.

Was man ahnt

Wie viel Wut und Ohnmacht muss man spüren, um ein Haus und sich selbst zu sprengen? Heutzutage ist viel zu häufig bewiesen worden, dass es für eine solche Wut nicht unbedingt Traumata bedarf, sondern dass Indoktrination und Gehirnwäsche ausreichen. [Man könnte Verbindungen herstellen zwischen Suizid, begleitetem Suizid (beispielsweise School Shootings) oder Suicide by Cop (was den Selbstmord durch tödliche Gewalt von Polizist*innen bezeichnet, provoziert durch einen Angriff) und Selbstmordattentaten herstellen, wobei jeweils die „Bühne“ größer wird und die Verschiebung der Probleme auf entferntere Bereiche (vom tatsächlichen Problem zum Glaubenskrieg).]

Rache ist zuallererst eine mentale Reaktion auf Machtlosigkeit in Form einer Fantasie. Ich erinnere mich nicht mehr, von wem ich es gelesen habe – Imre Kertész vielleicht? In jedem Fall ein KZ-Überlebender –, aber es hieß, dass die Ausführung der Rachefantasie im Moment, da sie machbar wird, keinen Sinn mehr ergibt, da sich die Ursache der Fantasie (die Machtlosigkeit) aufgelöst hat. Das scheint mir eine edle Idee zu sein, aber die unbeschreibliche Wut, die manche Erlebnisse (und Lebensphasen) mit sich bringen, wird nicht ausgelöscht durch den Fakt, dass die Phasen vorüber sind. Wut kann bleiben. Das führt meist zu desaströsen Konsequenzen, kann aber auch gut sein und die Zukunft retten.

Derartige wütend machende Phasen, um es mal kalt und euphemistisch zugleich auszudrücken, scheint es im Leben des Protagonisten gegeben zu haben. Ob er noch immer in einer solchen Phasen steckt oder ob sie durchstanden ist, kann man nicht wissen. Aber in beiden Fällen erscheinen mir Wut und Rache angebracht, wenn auch nicht in der dargestellten Form. Es gibt immer einen besseren Weg als jenen, der in die Literatur Einzug erhält, weil der literarische Weg zumeist überzogen und wirkungsstark designt ist. Er soll unterhalten und/oder symbolisch wirken. Die Taten meines Protagonisten stehen für seine Gefühle und damit wiederum für die Gefühle so vieler ruinierter Leben. Sie sind nicht dargestellt, damit sie nachgemacht werden oder um ähnliche Taten zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil. Sie sollen auf jene Taten hinweisen, die zu den dargestellten Taten geführt haben, und sie bestenfalls verhindern. Hört auf, Menschen zu Tätern zu machen, die ohne eure Einwirkung keine geworden wären!

Was am Ende übrig bleibt

Trümmer. Schutt und Asche. Ruinen, wo man hinblickt. Ich weiß, dass mein Blick auf die Welt zu häufig zu düster ist, aber ich weiß auch, dass Menschen mir mehr vertrauen als anderen. Ich habe Menschen zugehört, die mir die Hölle erzählten oder andeuteten. So viele gebrochene Menschen. Wer ohne zuzuhören durch die Welt geht, Signale übersieht und ganz besonders Freundinnen, Schwestern, Bekannten, Frauen nicht zuhört, kann nicht erkennen, was überall passiert. Mag sein, wer so durchs Leben geht, ist zufriedener (und ziemlich sicher ein Mann). Aber sch**ß auf deinen Komfort und schau hin!

Falsches Setting, oder?

Oh man. Auf Twitter habe ich es in der Entstehungsphase dieser Blogreihe mehrmals angedeutet, aber ich schreibe mich tatsächlich in Rage. Sicherlich wurde ich beim Verfassen von Trümmer inspiriert von den wirklich vielen Erzählungen mir bekannter Frauen über (zumeist) sexuelle Gewalt und der von mir bekannten Männern über Mobbing und nicht auslebbare Gewaltfantasien aufgrund kaum erträglicher Wut. Jedoch kann ich nicht ehrlich behaupten, dass diese Erfahrungen direkt in die Erzählung eingeflossen sind. Nicht immer habe ich ein komplettes Konzept. Das häusliche, familiäre Setting der Geschichte passt eigentlich nicht zu den Erfahrungen, von denen mir berichtet worden ist. Doch ich kam im Laufe der Gedanken über Trümmer auf diese Themen und so kann es den Leser*innen auch gehen.

Am Ende ist meine eigene Wut vermutlich entscheidender für die Geschichte als jede mir berichtete. Ändert das irgendetwas an Angst, Frustration und Widerlichkeiten, die andere regelmäßig durchleben? Ich denke nicht. Also ist auch dieser Text so in Ordnung.

Erschütterungen. Dann Stille.: Übler Nachgeschmack

Über die Kurzgeschichte “Übler Nachgeschmack” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Mit den Worten Sie liegt noch immer in der Küche beginnt die Kurzgeschichte Übler Nachgeschmack im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Was ich mit diesem Anfang bewirken wollte, wie es zur Erzählung gekommen ist und warum Sehnsuchtsgeschichten in jede Anthologie passen, kläre ich in diesem Blogartikel. Ohne Spoiler ist das nicht zu machen. Lest also bitte zuerst die Geschichte und dann den Artikel!

Content Notes: Mord, Essen, Liebe(skummer)

Hunde?

Die erste Assoziation, die ich selbst immer habe, wenn ich den Anfang von Übler Nachgeschmack wiederlese, ist eine Szene aus dem Film In China essen sie Hunde. (Vorsicht Filmspoiler!) Arvid, der Protagonist, hat seine dauernörgelnde Freundin umgebracht. Auf die Frage, wo sie sich befände, antwortet er: Zuhause. Im Flur… und in der Küche. Auch wenn es nichts mit meiner Geschichte zu tun hat, mag ich die Andeutung von extremer Wut in einem sonst ruhigen Charakter sehr. Arvid hatte die Schnauze voll und hat seine Freundin nicht bloß erschlagen, sondern offenbar mindestens in zwei Stücke zerlegt. Dass es ausgerechnet Gewalt gegen Frauen sein muss, die hier als Scherz genutzt wird, gibt natürlich einen üblen Beigeschmack. Zack, Überleitung.

Ähnliche, weniger spezifische Assoziationen würde ich bei Leser*innen von Übler Nachgeschmack gern auslösen mit dem ersten Satz. Da man noch nicht weiß, worauf sich das Sie zu Beginn bezieht, denkt man zuerst an eine Frau. Da sie noch immer in der Küche liegt, tut sie das wohl schon länger. Und warum sollte man ausgerechnet in der Küche liegen? Nur Verletzte und Tote liegen längere Zeit (regungslos) in der Küche herum. Das oder etwas Ähnliches hätte ich gern in die Köpfe der Leser*innen projiziert. Doch nicht die Partnerin ist tot, sondern die Liebe, und nicht sie liegt herum, sondern die Pizza.

Die Pizza

Ursprünglich ist die Geschichte entstanden, als jemand (auf Twitter oder in einem Forum?) dazu aufrief, Geschichten über Pizza zu schreiben. Das war Teil eines Scherzes, den ich vergessen habe, im Rahmen einer Unterhaltung, die ich ebenfalls vergessen habe. Und dennoch war das der Auslöser. Pizza. Was kann man mit Pizza literarisch anfangen? Gar nicht mal so wenig. Slice of Life – gilt das schon als Pun? – wäre eine passende Assoziation. Oder man nutzt die Pizza eben eher symbolisch, wie ich es getan habe.

Zwei Dinge sollte man mit der Pizza in Übler Nachgeschmack verbinden: Hunger und das Festhalten an Dingen, die man loslassen sollte. Die Ich-Erzählinstanz (oder Ich-Erzähler*in?) erwähnt den Hunger zum Zeitpunkt des letzten Streits des Paares. Aber man kann den Hunger auch als Sehnsucht interpretieren. Etwas fehlt, etwas Essenzielles. Nahrung, um zu überleben, oder Seelennahrung, Nähe, Liebe, um zu leben. Loslassen sollte die erzählende Person die Beziehung der beiden, die offensichtlich zerbrochen ist, schlecht geworden, nachdem sie zu lange schlechten Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Irgendwann reicht es. Eine ungesunde Beziehung oder gammelige Lebensmittel sollte man wegwerfen, so schade es auch manchmal sein mag. (An dieser Stelle verlinke ich meinen Blogeintrag über Lebensmittelmetaphern in Alte Milch.)

Das große Fehlen

Ich habe keine Ahnung, wie glücklich du gerade bist. Du liest das hier. Das bedeutet, du hast immerhin die Zeit dazu. Vielleicht interessiert dich das Thema sogar und du liest nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus. Dann könntest du zufrieden sein. Wie groß ist der Anteil der zufriedenen Momente an deinem kompletten Leben? Oder einem Zeitabschnitt, sagen wir innerhalb dieses Jahres?

Auch wenn du glücklich bist, vermisst du sicherlich Dinge, Zeiten, Menschen. Sehnsucht ist etwas, das jede*r kennt. Oder? Ich weiß es nicht, vermute es aber. Auch wenn heutzutage klar ist, dass nicht alle (gesunden wie ungesunden) Menschen romantische Liebe empfinden, fühlen doch alle (gesunden) Menschen irgendeine Form von Liebe. Und immer gibt es in Biographien Zeiten, die es mehr oder weniger verdient haben, vermisst zu werden und Sehnsucht auszulösen. Sehnsucht ist menschlich (wie Irren, was zu Fehlern führt, was wiederum zu Sehnsucht führen kann).

Das große Fehlen von Dingen, Zeiten, Menschen, Zuständen treibt uns voran (und manchmal zurück). Sehnsucht ist ein Zustand, der uns beflügeln kann. Evolutionär sinnvoll. Emotional anstrengend. In der Literatur liegt man selten falsch, wenn man Liebe zum (Neben)Thema macht, und eben so wenig, wenn man Sehnsucht dazu macht. Deshalb sind Sehnsuchtsgeschichten, die auch gerne mal getarnt sind, immer eine gute Wahl für Anthologien. (An dieser Stelle verlinke ich mal wieder den Auftritt von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD, einem perfekten Beispiel für einen Sehnsuchtstext.)

Du fehlst mir

Simplizität bedeutet Direktheit bedeutet schnelles Verstehen bedeutet Mitfühlen. Literatur kann und darf verkopft und seltsam und schwierig sein, aber geht es um Gefühle, geht es um Sehnsucht, ist nichts besser als eine direkte, knappe, scheinbar alltägliche, deutliche Aussage wie Du fehlst mir. Du fehlst mir hat mehr Macht als alle Jahreszeiten- und Blumenvergleiche der Welt. Du wirst mich niemals so an mich selbst und mein Leben und Leiden erinnern, als wenn du Aussagen nutzt, die auch Kindern einfallen könnten: Ich will nach Hause. Du fehlst mir. Lass mich! Ich brauche Hilfe.

Versucht man also, Gefühle in Leser*innen auszulösen, sind direkte Formulierungen unschlagbar. Sie sind da. Sie sind nah. Sie sind so kurz, dass sie sozusagen plötzlich im Auge, im Kopf, im Herzen der Leser*innen sind. Ist der Satz gelesen, ist er bereits verarbeitet und verknüpft. Kein Nachdenken. Nur Fühlen. Sätze mit etwa 2 oder 3 Wörtern brechen Herzen. Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Du bedeutest mir nichts. Geh weg. Sätze, die man hört und sagt, wenn der Kopf im Chaos versinkt und nichts mehr hält. Stil ist egal. Du fehlst mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Trauben

Über die Kurzgeschichte “Trauben” im Erzählband “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Massenpanik, Enge Räume, Explosionen

Wenn Panik die Dynamik einer Menschengruppe übernimmt, geht der Verstand unter und mit ihm meist die eine oder andere Person. Wer erinnert sich an die Panik-Szene in Sorck? Die habe ich in winziger Abwandlung im Urlaub erlebt. Ein Vorgeschmack von dem, was Schlimmeres hätte passieren können. Im folgenden Blogeintrag geht es um die Kurzgeschichte Trauben aus Erschütterungen. Dann Stille., meinem neuen Erzählband. Es geht um das Rezept für Massenpanik, Wortassoziationen und Erinnerungen. Doch lest zuerst die Geschichte und dann den Text, denn ohne Spoiler ist es nicht zu machen!

Wie man eine Massenpanik kreiert

Zunächst einmal braucht man Menschen und zwar ausreichend viele. Diese sollten nicht alle miteinander bekannt sein. Eine gut organisierte Gruppe gerät weniger schnell in Panik und beinhaltet eher Autoritätspersonen, die Ordnung und Ruhe schaffen können. Nehmen wir also eine lose Gruppe, sagen wir: Touristen.

Am wichtigsten für eine Massenpanik ist neben der Masse selbst der Ort. Es ist logisch, dass ein Ort, von dem man jederzeit verschwinden kann (ein offener Platz o.Ä.), sich nicht für eine Panik eignet. Ein Tunnel, eine Unterführung, abgesperrtes Gelände (durch Zäune, Mauern, Polizei etc.) oder eben ein U-Bahn-Eingangsschacht. Damit hätten wir quasi die Seiten geklärt. Man läuft von Punkt A nach Punkt B und auf dem Weg befinden sich an beiden Seiten Absperrungen.

Bleiben noch Eingang und Ausgang. Die Masse bedingt den Eingang zur Panikfabrik. Das heißt, es rücken immer mehr Menschen nach. Entweder sie wissen nicht, was weiter vorne vorgeht (siehe Love Parade), oder sie werden getrieben (siehe durch die Polizei ausgelöste Paniken). Und dann kommt der Knackpunkt. Der Ausgang ist zu. Er muss gar nicht wirklich zu sein, aber er ist blockiert oder einfach zu schmal, um den Andrang verarbeiten zu können. Diese Engstelle ist der Ursprung eines Staus, der immer länger wird und schließlich immer dichter, weil mehr und mehr Menschen nachströmen.

Es gibt noch weitere Faktoren, die das Geschehen verschlimmern oder entschärfen können. Komplette Studien haben sich damit beschäftigt. Wer sich dafür interessiert, sollte sich nicht auf mich verlassen, sondern selbst recherchieren. Ich biete nur ein sehr oberflächliches Bild hier.

Das Beispiel aus Sorck / Erinnerung

Wir waren in der Eremitage, dem großen und hochinteressanten Museum in Sankt Petersburg. Während wir hindurch geführt wurden, haben Mitarbeiter*innen immer mehr Türen geschlossen. Auf Nachfragen unserer Reiseführerin wurde uns mitgeteilt, dass das Museum früher schließen würde, weil später noch ein Politiker kommen würde. Keine Info im Voraus. Ich tendiere nicht dazu, im Urlaub zu meckern, wenn einmal etwas schiefgeht, aber es kann gut sein, dass ich niemals wieder nach Russland kommen werde und außerdem habe ich ein Visum beantragen müssen für einen einzigen Landgang von etwa 6 Stunden Dauer … Nungut, weiter im Text.

Alle Besucher*innen wurden mehr oder weniger unsanft zum Ausgang gedrängt.

Der Ausgangsbereich sieht folgendermaßen aus: Man kommt durch eine Tür in eine Halle. Alles verteilt sich, kein Stress. Die Ausgangstür wiederum ist wirklich nur eine Tür. Draußen hat es geregnet. Ohne sich etwas dabei zu denken, haben sich diejenigen, die aus dem Gebäude kamen, nicht weiterbewegt, sondern blieben stehen, um nicht nass zu werden. Sie stellten sich unter oder öffneten gemächlich ihre Regenschirme. Man kam also nur sehr langsam heraus. Gleichzeitig strömten weitere Menschen (angetrieben von den Mitarbeiter*innen) in die Halle. Es wurde immer und immer enger.

Hier haben wir ein gutes Beispiel für eine mögliche Massenpanik, auch wenn vermutlich mit einigen Hundert Besucher*innen zu wenig Menschen vor Ort waren für eine richtige Panik. Glaubt mir, ich habe den Menschen in die Augen gesehen: Die Angst war überall. Es gab einen schmalen Eingang in die Halle, durch den man nicht mehr flüchten konnte, weil noch mehr Menschen nachstrebten. Dann gab es den schmalen Ausgang, der wiederum halbwegs von Menschen blockiert worden ist. Dazwischen gärte es.

Wortassoziation

In Trauben spiele ich mit der Vermischung einer Panik-Szene und Kindheitserinnerungen des Protagonisten. Früh innerhalb dieser Erinnerungen taucht die Assoziation von Substantiv Weingut mit dem Wunsch schlaf gut! auf. Wenn man das Wort Weingut also wein gut! liest, ist die Verwirrung des Kindes verständlich. Es scheint keinen Sinn mehr zu ergeben.

Einerseits ist die Erwähnung dieser Wortassoziation dazu gemacht, um die Unschuld und eben das geringe Alter des Kindes zu unterstreichen. Andererseits deutet sie bereits den grundsätzlichen Wortspielcharakter des Titels und der Verbindung zwischen der Beobachtung des erwachsenen Protagonisten und seiner Kindheitserinnerung an.

Die Geschichte ist nur entstanden durch die Assoziation Weintrauben – Menschentraube. Wem die Wortverbindung bekannt vorkommt, denkt vielleicht an das Gedicht Stadt Land Fluss aus Alte Milch. Man kann durchaus 2 völlig unterschiedliche Texte aus einer einzigen Assoziation machen. Damit haben wir auch die direkte Verbindung aus der Menschentraube, die Protagonist Simon beobachtet, und seiner Erinnerung.

Unschuld als Beschleunigungsfaktor

Neben der Assoziation von Menschentraube zu Weintraube haben wir noch die weniger schönen Konsequenzen beider Beobachtungen. Aus den Weintrauben wird Wein gemacht, eine rötliche Flüssigkeit (sofern wir von Rotwein ausgehen). Aus der Menschentraube wird Weinen gemacht. Die Menschen bluten.

Ich hätte nun einfach voyeuristisch Panik und Verletzungen beschreiben können. Aber warum sollte ich? Ich sehe keinerlei literarischen Wert darin. Durch die Verbindung mit der Kindheitserinnerung scheint die Geschichte auf einer Ebene entschleunigt zu sein, da eben Einschiebungen vorkommen, die keinerlei Action enthalten. Aber die Auswirkungen dessen, was Simon beobachtet, werden verstärkt durch die Verbindung zur Weinherstellung und zur Spielerei mit den Worten Wein/Weinen. Sobald die Bilder im Kopf entstehen, ist die Sache klar: Der Bottich (der Eingang zur U-Bahn), in dem die Trauben (Menschen, Menschentraube) liegen, auf denen Füße trampeln, bis der rote Saft austritt. So kunstvoll und künstlerisch die Idee beginnt, so brachial und körperlich endet sie.

Verarbeitung, Aussage, Handwerk?

Warum das alles? Das ist eine Frage, die ich mir ständig stelle, aber vergleichsweise selten im Zusammenhang mit meinen Geschichten. Ich brauche ein Warum fürs Leben, nicht fürs Schreiben. Und dennoch! Woher kommt das alles? Trauben ist wie eigentlich alles entstanden aus einer Vermengung verschiedenster Aspekte, Wörter, Ideen, Erfahrungen und immer auch der Frage, ob ich so etwas umsetzen kann.

Mich faszinieren Assoziationen. Warum verbindet mein Gehirn im Traum scheinbar völlig unverbundene Elemente und baut daraus eine wahrlich aussagekräftige Message? (Das tut mein Hirn übrigens wirklich. Meine Träume sind ähnlich strukturiert wie meine Geschichten, aber leichter interpretierbar.) Wieso verbindet man manchmal uralte Erinnerungen mit neuen Erlebnissen? Oder warum sterben Heroinabhängige an einem Ort, an dem sie sonst nicht spritzen, an einer Überdosis, obwohl sie nicht mehr nehmen als sonst? Hier ist die Antwort übrigens, dass sich der Körper quasi vorbereitet ist am Standard-Konsumort und woanders nicht. Die Assoziation geht also über das rein Geistige hinaus. Der Körper spielt mit.

Mehr als um eine Aussage oder voyeuristische Action geht es mir also ums Nachdenken über Assoziationen an sich. Alle, die mehr herausgelesen haben, sind herzlich eingeladen, dabei zu bleiben und mitzunehmen, was sie können!

Sicherheitshalber

Im Zuge dieses Blogeintrags wurde das Thema Massenpanik etwas flapsig besprochen. Das soll keineswegs ein Zeichen mangelnden Respekts gegenüber Personen sein, die derartige Situationen durchleben mussten oder, schlimmer noch, nicht überlebt haben, oder fehlenden Bewusstseins, wie schrecklich eine solche Situation ist. Wie bereits mehrmals erwähnt, gehöre ich zu den Menschen, die schreckliche Dinge besser (oder nur dann) verarbeiten können, wenn sie Humor verwenden (dürfen).

Passt auf euch auf und versucht in allen angemessenen Situationen, die Ruhe zu bewahren. In allen anderen dürft ihr ausrasten und manchmal solltet ihr das sogar!

Das Ende des Blogeintrags, das Ende der Welt

Im Blogeintrag Apokalyptische Bilder habe ich, wie der Titel bereits besagt, über Bilder und Vergleiche in der Literatur geschrieben, die die Offenbarung des Johannes aufgreifen. In der Kurzgeschichte Trauben kommen ebenfalls einige Bilder vor, die sich an der Apokalypse orientieren, weil jeder Tod zugleich der Weltuntergang ist (Hermann Burger). Wir brauchen nicht das Ende der Welt als solcher, es reicht das Ende einer Welt.

Erschütterungen. Dann Stille.: Not In Love

Über die Kurzgeschichte “Not In Love” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Viele Autor*innen schreiben gern mit Hintergrundmusik und haben dafür eigene Playlists oder Go-To-Songs. Eigentlich gehöre ich nicht zu diesen Autor*innen. Ich bevorzuge Stille oder White Noise. Doch manchmal kommen Musik und Schreibarbeit ungeplant zusammen. Dann entsteht etwas Neues. In diesem Blogeintrag geht es um die Geschichte Not In Love in Erschütterungen. Dann Stille.. Warnung: Spoiler sind unmöglich zu vermeiden.

Content Notes: Selbstverletzung, Alkohol, Liebeskummer, Verwirrung

Es ist Freitag, ich bin in Liebe

Der zitierte Tweet einer Twitter-Autorin ist aus einer Reihe ihrer Freitagstweets. It’s Friday, I’m in love hat Robert Smith 1992 zu singen begonnen und tut es in den Köpfen vieler noch immer. 2010 hat er etwas anderes zu singen begonnen: I’m not in love. Not In Love ist ein Cover von Crystal Castles (von 2010) mit Smith als Ausnahme-Sänger und im Original von Platinum Blonde aus dem Jahr 1983. Dies ist Song Nr. 1, der mich inspirierte.

Song Nr. 2 ist ebenfalls von Crystal Castles und heißt Sad Eyes. Er ist aus dem Jahr 2012, von einem anderen Album. Aus irgendwelchen Gründen wurden beide Titel in meiner Playlist direkt aufeinander folgend gespielt (so wie im Augenblick des Schreibens dieses Artikels auch). You can’t disguise sad eyes, heißt es dort. Und dann hat es mich gepackt. Ich habe beide Songs auf Dauer-Repeat gestellt und geschrieben.

Refrain: I’m not in love!

Vehement behauptet die Stimme: I’m not in love! I’m not in love! Sie behauptet es so häufig, dass es unglaubwürdig wird. Warum sollte irgendjemand wieder und wieder betonen, dass er nicht mehr liebt? Und wie eine Befreiung oder Aufklärung ändert sich der Text in We are not in love. Das Ich darf nicht mehr „in Liebe“ sein (ich mag und klaue diese Formulierung oder Direktübersetzung von Jess an dieser Stelle), weil das Paar nicht mehr existiert, weil das Wir nicht mehr „in Liebe“ ist – wie könnte es, wenn mindestens ein Part die Liebe aufgegeben hat?

Eine ähnliche Assoziationskette wollte ich auslösen mit der Wiederholung der Worte Not In Love in der Geschichte. Außerdem wollte ich mit der Wiederholung, die wie ein Mantra oder Refrain wirkt, auf den Song und die musikalische Herkunft der Erzählung hindeuten. Der Ich-Erzähler versucht, sich selbst zu überreden. Er singt sich seine Lügen vor, bis er sich endlich davon befreien kann.

Ja ja, die Liebe

Liebe in allen Variationen ist vermutlich das älteste und meist behandelte Thema der gesamten Literatur- und Kulturgeschichte der Welt. Als Thema wird es niemals ausgedient haben. Jedenfalls nicht, solange die Menschen noch lieben, noch in Liebe sind, noch die Liebe verlieren und vermissen und Sehnsucht haben und hoffen, immer wieder hoffen.

Ich habe vermutlich nicht mehr Ahnung von Vergnügen und Schmerz der Liebe als die meisten anderen, auch wenn es sich für jede*n so anfühlen mag, dass er gerade jetzt, gerade hier besonders heftig zugeschlagen hat.

Mir fällt gerade auf, dass ich einen Fehler begangen habe. Mal wieder habe ich Liebe mit romantischer Liebe gleichgesetzt. Nicht alle empfinden romantische Liebe und das ist okay. Ich würde tatsächlich gern mehr über andere Formen der Liebe (Freundschaft beispielsweise) lesen. Doch wer zu romantischer Liebe fähig ist (oder dazu verdammt, sie zu empfinden), wird mir vermutlich zustimmen, dass es wenig gibt, das sich intensiver anfühlt. Daher verzeihe man mir meine fehlerhafte Ausdrucksweise in Anbetracht der albernen Emotionsnostalgie, in die man verfallen kann, wenn man über romantische Liebe nachdenkt.

Tempo, und Stopp!

Not In Love ist verwischt, was das Tempo angeht. Die Erzählung ist nicht stabil, sondern rennt einmal voran und stoppt dann wieder, um einen kurzen Moment festzuhalten, der wichtiger zu sein scheint als die Jahre davor. Kennt ihr das aus der eigenen subjektiven Wahrnehmung der Zeit? Im Positiven kann es vorkommen, dass man tage- und wochenlang hetzt und nicht zur Ruhe kommt, und dann sitzt ihr da und haltet eine Hand in eurer Hand. Das Tempo ändert sich. Endlich. Im Negativen sieht es ähnlich aus, aber fühlt sich anders an. Alles rast in Gleichgültigkeit und in Stumpfsinn emotionslos vorbei, bis ihr die Hand, die euch gerettet hatte, in einer fremden Hand erblickt. Alles gefriert und splittert und brennt zugleich. Der Anblick eines vertrauten Menschen kann unfassbar schmerzhaft sein. Das ist es, was ich erreichen wollte, als ich die Szene hervorgehoben habe, in der der Ich-Erzähler seine ehemalige Partnerin entdeckt. Nicht mehr die Person zu sein, deren Hand gehalten wird, tut weh, nicht die Existenz der fremden Hand, sondern was sie bedeutet.

Kein toxischer Müll

Mir ging es um die Erfahrung des Verlassen-Werdens, des emotional Auf-Sich-Gestellt-Seins, der Einsamkeit und des Nicht-Loslassen-Könnens. Wichtig war mir dabei, dass die Darstellung nicht giftig wird. Kein Hass gegenüber der ehemals geliebten Person. Noch weniger wollte ich dieses ekelhafte Verhalten darstellen (oder gar romantisieren), das sich bei manchen zeigt: Verfolgung, übergriffige Rückeroberungsversuche, Gesten, die vielleicht schön sein sollen, aber auch Angst machen können.

Ein „ich bin immer in deiner Nähe“ kann unglaublich creepy sein und ist z.B. nicht zu vergleichen mit dem „ich lasse nachts die Tür auf, falls sie doch entscheidet, zurückzukommen“ wie in Neil Hilborns Auftritt , die ich im Artikel über die Erzählung Heimweg erwähnt hatte. Keine Liebe der Welt rechtfertigt es, die bewusst (und in geistig gesundem Zustand) getroffenen Entscheidungen anderer zu missachten.

Chaos der Wohnung als Chaos im Herzen

Zu Beginn von Not In Love zerschlägt der Ich-Erzähler einen Spiegel. Am Ende verletzt er sich selbst mit einer Scherbe des Spiegels. Wie viel Zeit dazwischen vergeht, lasse ich absichtlich offen, aber der Eindruck sollte entstehen, dass es sich um mehrere Monate handelt, wenigstens aber etliche Wochen. Was sagt es über den inneren Zustand des Ich-Erzählers aus, dass seine Wohnung nach Wochen und Monaten noch immer nicht aufgeräumt worden ist? Wer sich schon einmal aus Krisen gearbeitet hat, weiß, dass eine ordentliche Umgebung der inneren Genesung behilflich ist. Wir kümmern uns um das, was wir relativ einfach ändern können. Wir verändern die Welt, in der wir leben. Wir schaffen etwas. Wer stets im Chaos, in richtigem Chaos, lebt, hat vermutlich mehr Probleme als nur die Unordnung in der Wohnung. Auch das ist eine Assoziation, die ich auslösen wollte.

Klappe zu, Affe tot

Dieser Spruch bezieht sich übrigens auf Drehorgeln, soweit ich weiß. Im Fall des Erzählers sollte man eher sagen: „Finger ab, Problem gelöst“. Das ist natürlich Unfug. Niemand, der sich selbst verstümmelt, ist klar bei Verstand. So werden keine Probleme gelöst, wenn man nicht gerade in einem Saw-Szenario gefangen ist oder fernab der Zivilisation mit Wundbrand zu kämpfen hat.

Der abgetrennte Finger steht symbolisch für die Trennung vom bisherigen Lebensabschnitt. Der „Abschnitt“ wird wortwörtlich abgetrennt. Er liegt noch nicht hinter ihm. Der Stumpf wird bluten, der Finger herumliegen. Es wird weiterhin Schmerzen geben. Es ist sogar möglich, dass der Finger wieder angenäht wird.

Der Ich-Erzähler beginnt mit einer Rechtfertigung, in der er ganz klar sagt, dass seine Gedanken bei der Tat „ausgelöscht“ gewesen waren. Es war kein durchdachter Akt, aber auch keine blinde Zerstörungswut. Wenn wir ohne nachzudenken und drastisch handeln, führen wir oft symbolische Akte aus. Ich bin in einem ähnlichen Zustand einmal barfuß durchs Feuer gelaufen. Die Faust, die den Spiegel zerschlägt, ist ein weiterer Klassiker. Wir reden hier nicht von psychisch gesundem Umgang mit den eigenen Gefühlen, aber immerhin von etwas, das vielen vertraut sein könnte.

Der Finger und die Schwäche Wolverines

In der allerersten Version von Not In Love schneidet sich der Ich-Erzähler mit der Scherbe den Finger ab, aber das ist ziemlich schwierig und dauert eine Weile. Daher habe ich mich für die schnelle Abtrennung entschieden, wie sie in der Geschichte beschrieben steht. Der Knochen dürfte das größte Problem beim Vorgang darstellen, aber am Gelenk sollte es leichter gehen. So. Aufgepasst! Wolverine hat starke Selbstheilungskräfte und seine Knochen sind aus Adamantium, das weitestgehend unzerstörbar sein soll. Aber es gibt schließlich Gelenke und knochenlose Körperteile, Schwachstellen. Würde man beispielsweise Wolverines Arme an den Schultern abtrennen, verlöre er das Adamantium dort, auch wenn die Arme nachwachsen sollten. Man kann ihn auf diese Weise nicht umbringen, aber immens und dauerhaft schwächen. Nur so ein Gedanke.

Erschütterungen. Dann Stille.: Joboffensive

Über die Kurzgeschichte “Joboffensive” in der Anthologie “Erschütterungen. Dann Stille.”

Zusammenarbeit oder -stöße mit dem Jobcenter sind selten angenehm. Das liegt in der Natur der Zuständigkeit dieser Organisation. Das ist ein Grund, warum die Erzählung Joboffensive aus Erschütterungen. Dann Stille. dort angesiedelt ist. Im Folgenden kommen Spoiler zur Geschichte vor!

Content Notes: Arbeitslosigkeit, Massenmord

Keine Unterstellung

Auch wenn das Jobcenter keinen sonderlich guten Ruf hat, soll die Erzählung Joboffensive keinesfalls einen realen Vorwurf gegen diese Institution oder gar die Mitarbeiter*innen beinhalten, sondern allerhöchstens einen Seitenhieb aufgrund bisheriger Erfahrungen austeilen und hauptsächlich eine dystopisch-satirische Fantasie darstellen. Obwohl manche Methoden des Jobcenters fragwürdig erscheinen mögen, erwarte ich keine Tötungsanlagen im Keller. Lest die Geschichte nicht als Tobsuchtsanfall eines wütenden Arbeitslosen, sondern als Kritik an herrschenden Gesellschaftsverhältnissen, dem Blick auf Produktivität und Menschenwert sowie am Kurs, den unsere Gesellschaft eingeschlagen hat! All das von allein zu verstehen, unterstelle ich meiner Leserschaft.

Rechtsfolgebelehrung

Jede*r mit etwas Erfahrung im Umgang mit dem Jobcenter und den Schreiben, die von dort eintrudeln, kennt das: Eine Mischung aus freundlichem und sachlichem Ton, der mit einer Drohung endet, gefolgt von angehängten Seiten, auf denen die rechtlichen Grundlagen der Drohung aufgeführt sind. Fehlt der Anhang, die Rechtsfolgebelehrung, darf die Androhung der Sanktion nicht umgesetzt werden, beziehungsweise die Drohung fehlt dann im Brief. Erfahrene Arbeitslosengeld-2-Empfänger*innen schauen zuallererst nach, ob es eine Rechtsfolgebelehrung gibt. Manche, habe ich gehört, werfen alle Schreiben ohne Belehrung sofort weg.

Die Sprache des Feindes

Schreiben des Jobcenters sind faszinierend zu lesen. Oben steht „Einladung“ und unten steht sinngemäß „wenn Sie nicht Folge leisten, bekommen Sie noch weniger Geld“. Oben steht „Vorschlag“ und unten steht „gehen Sie nicht auf den Vorschlag ein, gibt es eine Strafe“. Oben steht „Bitte um Mitwirkung“ und unten „wirkst du nicht mit, gibt’s Ärger“.

Diese Vermischung von Begriffen und Sätzen, die im Alltag als widersprüchlich gelesen werden würden, erinnerte mich mehr als einmal (wenn auch entfernt) an die Euphemismen des Nationalsozialismus: Endlösung, Euthanasie usw. Der Sprung ist zum Glück nicht klein, aber er ist machbar.

Gruppenveranstaltungen

Ähnliche Veranstaltungen wie jene in Joboffensive beschriebene habe ich selbst besucht. Ein Haufen völlig uninteressierter Teilnehmer*innen sitzt aufgrund einer Strafandrohung zusammen. Man kann es sich wie ein Klassenzimmer voller unwilliger Schüler*innen vorstellen, die weder Interesse haben, noch der Lehrkraft irgendetwas durchgehen lassen. Es muss furchtbar anstrengend sein, derartige Veranstaltungen zu leiten. Ich beneide niemanden um den Job.

In der Erzählung kommt kein*e Redner*in. Alles schläft ein.

Hannah Arendt

Eine weitere Inspirationsquelle für Joboffensive ist eine Aussage Hannah Arendts aus ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie konnte sich vorstellen, dass, nachdem der Nationalsozialismus den Massenmord derart fabrikmäßig durchgeführt hat, einmal also bereits die Grenze überschritten worden und ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, auch im Kapitalismus eine ähnliche Apparatur möglich sein könnte. In dem Falle, schreibt sie, seien allerdings nicht Ethnien oder politische Gegner*innen Ziele des Massenmords, sondern jene, die der Gesellschaft nichts nützten, beispielsweise die Arbeitslosen. All jene, die aus wirtschaftlicher Sicht überflüssig sind und nur Geld kosten. Auch das hat es im Dritten Reich bereits gegeben.

Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich zuletzt etwas von Hannah Arendt gelesen habe, aber diese Aussage ist geblieben. Sie ist geblieben, weil sie mir nie unrealistisch vorgekommen ist, so gern ich es auch gehabt hätte.

Scheinbare Widersprüchlichkeit

In abscheulichen Systemen wie dem Nationalsozialismus hat es auch immer Elemente gegeben, die geradezu albern wirken. In LTI (Lingua Tertii Imperii) schreibt Victor Klemperer folgende Passage: […] ich durfte dem Tierschutzverein für Katzen keinen Beitrag mehr zahlen, weil im „Deutschen Katzenwesen“ – wahrhaftig, so hieß jetzt das zum Parteiorgan gewordene Mitteilungsblatt des Vereins – kein Platz mehr war für artvergessene Kreatueren, die sich bei Juden aufhielten. Grund für solche Seltsamkeiten ist die komplette Bürokratisierung und Organisation sämtlicher Aspekte des Lebens.

Wenn in Joboffensive also von der umweltfreundlichen Politik der Regierung gesprochen wird, während nebenan Leichen verbrannt werden, und in diesem Rahmen die Minimierung der Abgase sowie die Nutzung der bei der Verbrennung entstehenden Hitze erwähnt werden, so unterstreicht dies einerseits die Gräuel der Taten und die Gewohnheit an diese, und folgt andererseits der Logik durchorganisierter Gewaltsysteme. Die innere Paradoxie und offenliegende Lächerlichkeit derart monströser Systeme hinterlässt alle nicht Indoktrinierten staunend.

Erschütterungen. Dann Stille.: Bad Luck II

Über die Sci-Fi-Kurzgeschichte “Bad Luck II” im Sammelband “Erschütterungen. Dann Stille.”

Nein, das ist keine Fortsetzung von Bad Luck I – es gibt kein Bad Luck I –, sondern ein mittelschlechter Scherz. Bad Luck II ist die einzige Science-Fiction-Geschichte in Erschütterungen. Dann Stille. und generell die einzige, die ich bisher geschrieben habe. An dieser Stelle wieder die Spoiler-Warnung für alle, die die Geschichte noch nicht gelesen haben.

Der Name

Schiffe haben gerne seltsame Namen und vermutlich irgendwann auch Raumschiffe. Meines Wissens nach kann man ein privates Schiff nennen, wie man will. Ich denke gerne an die unbemannte schwimmende Landungsplattform (also quasi ein Schiff) von SpaceX namens Of Course I Still Love You, deren Name (wie auch der des Vorgängerschiffes) aus der Science-Fiction-Story The Player of Games von Iain M. Banks stammt. Eine Inspiration für den Namen meines Raumschiffs (Bad Luck II) war ein Schiff, das ich irgendwo (Film? Meme? Foto?) gesehen habe und das Unsinkable II hieß, was mich wiederum an lustige Filmtitel wie Titatic II erinnerte.

Bad Luck bedeutet übersetzt „Pech“, „schlechtes Glück“. Die zweite Version eines Schiffes mit diesem Namen deutet bereits auf das Schicksal des ersten hin, so wie viele zweite Versionen an das Scheitern der ersten gemahnen. Für mich handelt es sich hauptsächlich, wie oben erwähnt, um einen Scherz.

Der Weltraum, unendliche Weiten …

Im Weltraum gibt es nichts. Der Weltraum ist die Leere zwischen den kleinen Gefährten und etwas größeren Monden und Planeten, die uns Sicherheit und Leben schenken. Fast überall im Universum ist es zu kalt, zu heiß, zu sauerstoffarm (das wäre dann wohl ein Euphemismus) oder sonstwie zu tödlich für uns. Ich kann mir kein brutaleres Bild für Einsamkeit vorstellen als ein Raumschiff mit nur einer einzigen Person an Bord, weit entfernt von allem, was eine Heimat sein könnte.

Das liegt erstens an der Kälte, die innerhalb von Sekunden einen menschlichen Körper gefrieren lässt, zweitens an der Dunkelheit, die lediglich von winzigen, weit entfernten Punkten durchbrochen wird, und drittens an der absoluten Stille des jeden Ton verschluckenden Vakuums. Diese drei Punkte habe ich in Bad Luck II darzustellen versucht, insbesondere Punkt Nr. 3, die Stille. Einsamkeit ist jedoch nur ein Nebenthema der Geschichte.

Homo Homini Lupus Est

Homo Homini Lupus Est: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das stellte der Philosoph Thomas Hobbes fest. Später korrigierte er den Satz zu Homo Homini Lepus Est: Der Mensch ist dem Menschen ein Hase. So oder so hat der Mensch den Menschen zu fürchten oder fürchtet ihn wenigstens zu Recht. Doch darum geht es nicht. Hobbes ist berühmt für sein Werk Leviathan aus dem Jahr 1651. Leviathan ist ein Werk des Staatstheorie, also der philosophischen Richtung, die der Frage nachging, wie es ursprünglich zur Gründung von Staaten (Reichen, Nationen, großen Gemeinschaften) gekommen ist. Hobbes stellte die Theorie auf, dass der Mensch im Naturzustand, also in uneingeschränkter Freiheit, seine niedersten Instinkte ausleben würde. Absolute Freiheit bedeutete also das Recht der/des Stärkeren und eine Unterwerfung unter eine gemeinsame Regierung wäre zum Vorteil aller (außer der Allerstärksten). Alle geben einen Teil ihrer Freiheit auf, um sicher leben zu können.

Brachiale Freiheit

Hobbes stellt innerhalb seiner Ausführungen außerdem das Offensichtliche fest: Im Naturzustand, also in scheinbar absoluter Freiheit, ist niemand frei. Die ständige Todesangst, der fehlende Schutz vor anderen und der fehlende Zusammenhalt stürzen einen Menschen in einen Zustand, in dem er zwar keinen offiziellen Regeln folgen muss, aber auch niemals sich selbst verwirklichen kann, niemals beruhigt oder für einen Moment unvorsichtig sein darf. Echte Freiheit ist etwas anderes.

Leider haben das viele Menschen noch nicht verstanden. Gerade Corona hat wieder einmal gezeigt, wie wenig überlegt das Wort Freiheit benutzt werden kann und wird. Man wird nicht weniger frei durch die Verwendung einer Maske oder die Vorschrift dieser Verwendung. Im Gegenteil. Die Regelung schützt alle vor einem chaotischen Zustand, vor unkontrollierter Ausbreitung einer (viel zu häufig tödlichen oder schwere Folgen habenden) Krankheit. Wie frei fühlt man sich noch, wenn jede Begegnung das Leben kosten könnte? Freiheit oder Tod kann man für sich selbst fordern (und es gibt Situationen, in denen das nachvollziehbar ist), aber man kann es nicht von anderen verlangen. Besonders dann nicht, wenn diese vermeintliche „Freiheit“ aalglatter Bullshit ist. Deine Freiheit, keine Maske tragen zu müssen, ist meine Unfreiheit in Angst zu leben. Deine „Freiheit“ oder dein Tod? Von mir aus. Mein Tod für deine „Freiheit“? Nein, danke.

Keine Heldengeschichte

Trip, der Protagonist von Bad Luck II, ist kein Held und die Erzählinstanz lügt und manipuliert. Mit der Aussage Wirkliche Freiheit ist nur möglich, wo Sicherheit gering ist beginnt die Geschichte. Diese Aussage ist extrem relativ. Sie ist keine glatte Unwahrheit, aber sie darf nicht unkritisch gelesen werden. Wann ist Freiheit wirklich? und wann ist Sicherheit gering? Natürlich darf man nicht alle Freiheit für Sicherheit opfern. Bekanntlich verliert man auf diese Weise beides. Aber eine derart willkürliche und lockere Behauptung darf man nicht akzeptieren!

Trip ist nicht frei oder sogar ein Freiheitskämpfer, er ist ein Krimineller. Er tötet ohne Reue, raubt, was er braucht. Er ist kein Held, aber die Prämisse, der erste Satz der Geschichte, will ihn zu einem machen. Freiheit benötigt keine Gefahr, um zu existieren, und Sicherheit fußt nicht zwangsläufig auf Unfreiheit.

Was soll das dann?

Bad Luck II ist für mich eine Übung in kritischem Lesen für alle Lesenden und eine Übung in einem fremden Genre für mich. Ich hoffe, dass die Geschichte gefällt, ohne dass ihre kalten Inhalte als wahr angenommen und vielleicht sogar ins eigene Denken übernommen werden.

Sicherlich, als es noch kein Google gab, keine guten Antivirus-Programme und so gut wie gar keine Regulierung des Internets, konnte man alles kostenlos finden, wenn man nur wusste, wo man zu suchen hatte – und bereit war, Gesetze zu übertreten. Es war ein riesiger digitaler Spielplatz. Aber man war auch Angriffen schutzlos ausgeliefert, und alles, was man kostenlos heruntergeladen hat, hat irgendwo Schaden verursacht. War das wirklich Freiheit? Ich glaube nicht. Aber fühlt sich die komplette Überwachung aller Verbindungen, Gespräche, der Tastenanschläge, Websitebesuche und Einkäufe etwa wie Freiheit an? Fühlt sie sich sicher an?

Erschütterungen. Dann Stille.: Heimweg

Über die Kurzgeschichte “Heimweg” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wohin geht der Weg, wenn man getrieben ist und sucht, ohne zu wissen, wonach man suchen sollte, oder, schlimmer noch, wissend, dass das, was man sucht, nicht gefunden werden kann, nicht gefunden werden will? Manchmal verläuft man sich. Heimweg ist eine Kurzgeschichte aus Erschütterungen. Dann Stille.. Im Folgenden werde ich um Spoiler zur Geschichte und auch zu Sorck nicht herumkommen. Zweitere sind jedoch von geringer Wichtigkeit. Lest am besten erst die Erzählung und dann diesen Blogeintrag.

Verlaufen

Schon in Das Maurerdekolleté des Lebens drehte sich vieles um das Bild des Verlaufens, des Suchens nach etwas, ohne genau zu wissen, was es ist. Martin stolpert durch die Stadt, immer auf der Flucht vor der Leere in den eigenen vier Wänden und der Sehnsucht nach dem Alleinsein. Er hat kein Zuhause mehr, weil sie sein Zuhause gewesen ist und das Gefühl der Geborgenheit mitgenommen hat. Martin hat sich verlaufen, weil er nirgendwo mehr hingehört. Die Punkte auf der Landkarte, an denen er rastet und Zeit verbringt, könnten willkürlich andere sein. So fühlt es sich manchmal an, wenn man verlassen ist. Gerade jetzt erinnert es mich an den großartigen Song Spiral Wings von John Doran & Gnod auf dem Album Hubris. Besonders die Stelle, an der der Sprecher realisiert: I ain’t even f*cking moving, obwohl er ein Leben lang die eigenen Spuren zu verfolgen gesucht hatte.

Martin, Martin Sorck?

Martin, der Protagonist in der Kurzgeschichte Heimweg ist, obwohl es nicht als Nebengeschichte zu Sorck gedacht ist, auch nicht ganz zufällig mit dem gleichen Namen bedacht wie Martin Sorck. Die Probleme des nachnamenlosen Martin aus Heimweg sind artverwandt und teilweise sogar die gleichen wie jene Sorcks. Beide sind unterwegs, trinken zu viel und sind einsam. Doch die Partnerin macht den Unterschied. Dieser Martin hier vermisst seine ehemalige Partnerin, während Martin Sorck sich nach der möglicherweise zukünftigen Partnerin Eva sehnt.

Wollte man Heimweg ins Sorck-Universum – was für ein geiler Begriff, oder? – einfügen, so wäre die Geschichte vermutlich eine frühere Episode. Der Martin Sorck nach der Kreuzfahrt wäre sich vermutlich der Theatralik der Szene bewusst und würde sie ironisch betrachten, anstatt sie auf gleiche Weise zu durchleiden. Satzfetzen wie eine Nacht, über die man am besten nur sagt, dass es nieselte hätten allerdings auch zum Protagonisten der Kreuzfahrt gepasst.

Inspiration

Wie ich im Blogartikel Verlaufen über einige Ideen hinter Das Maurerdekolleté des Lebens bereits geschrieben habe, habe ich mich im Leben häufiger verlaufen. Nicht selten ist das auf ähnlichen (ähnlich besoffenen) Spaziergängen passiert, wie jenem in Heimweg. Dass ich schon mehr als einmal verliebt gewesen und verlassen worden bin und hartnäckig vermisst habe, kann man sich wohl denken. Manche Gedichte in Alte Milch zeugen sehr deutlich davon. So viel oder so wenig zum persönlichen Hintergrund.

Eine weitere Inspirationsquelle, von der ich allerdings nicht mehr 100 % sicher bin, ob sie wirklich dazu beigetragen oder mich bloß sehr berührt hat, ist das Video eines Auftritts von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD. Ob nun aus Interesse an meiner Arbeit oder warum auch immer, schaut es euch mal an! Mir hat es wehgetan, weil ich das grundsätzliche Gefühl gut nachempfinden konnte. Und auch in Heimweg ist nicht das Thema des Videos eingeflossen, sondern das Gefühl der kaum erträglichen Sehnsucht und der Hoffnung, die doch nichts als Schmerz bringt. Martin nutzt den Namen seiner ehemaligen Partnerin wie eine Beschwörungsformel, um Albträume fernzuhalten, und doch sind es die Träume, in denen sie auftaucht, die ihn am meisten mitnehmen.

Letzte Worte

An dieser Stelle würde ein Teil von mir gern einen Absatz über die Macht von Namen anfügen, geheimen Namen, mächtigen Namen und all das. Auch könnte ich an Albert Camus und Der Fremde erinnern, an die Szene, in der der Protagonist das einzige Mal im ganzen Roman laut wird und die Unfairness seines Schicksals beklagt, und wie diese Szene möglicherweise dem Ende von Heimweg ähnelt. Aber emotional gehört das nicht mehr hierhin, wäre es nicht mehr stimmig. Ich schließe an dieser Stelle, weil ich mich im Text verlaufen habe.

Erschütterungen. Dann Stille.: Caspars Schiffe

Über die Erzählung “Caspars Schiffe” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Ursprünglich ist Caspars Schiffe (genau wie Der Mitatmer) für die neue Anthologie von Nikas Erben entstanden. Es wurden allerdings zwei andere Geschichten ausgewählt für das Projekt, die etwas besser zum Thema passten. Hier soll es also um die Stierkatzen-Geschichte aus Erschütterungen. Dann Stille. gehen. Wie immer vorweg die Warnung an alle, die die Erzählung noch nicht gelesen haben: Es wird Spoiler geben!

Ein neuer Ansatz

Caspars Schiffe ist die erste Geschichte, die ich mit diesem speziellen Ansatz geschrieben habe, anfangs lediglich Oberflächenstrukturen und Farben auszuwählen. (Darauf bezog sich ein kurzes und etwas kryptisches Zitat im Zeitungsartikel über Erschütterungen. Dann Stille.) Zwar ist im Laufe mehrerer Überarbeitungsrunden noch einiges an Tiefe und Bedeutung hineingearbeitet worden, aber der Anfang war genau dieser: Auswahl von Oberflächenstrukturen und Farben.

Welche waren das? Ich dachte zuerst an schwarz-weiße Fliesen, glatt. Dieses unruhige Küchenaccessoire, das jede*n verrückt macht, der/die nur auf einfarbige Fliesen treten möchte/kann oder nur auf die Fugen dazwischen, weil die Fliesen zu klein sind dafür. Unruhiges Geflimmer unter den Füßen. Offensichtlich gilt das nicht für Katzen. Rauer Putz, Staub, glitschige Oberflächen, dicke Farbe auf grobem, splitterndem Holz. Dann Grüntöne, Grautöne. Ich hatte meine Augen geschlossen und in Gedanken Flächen berührt, die Caspar berühren sollte, und Farben gesehen, die Caspar sehen sollte. Das war der Ausgangspunkt.

Das Gemälde / Das Meer

Caspar hat seinen Namen vom Maler Caspar David Friedrich. Es wird erwähnt, dass er einem Bild entsprungen sei. Manche Farben, die ich beim Schreiben im Kopf hatte, passten zu Friedrichs Gemälden. Noch mehr aber passten die Einsamkeit, die Sehnsucht und die Freiheit des Katers dazu. Doch diese ganze Ebene, die sich schließlich auf die gesamte Geschichte ausgedehnt hat, war ursprünglich sekundär. Ein weiterer Farbauftrag. Die Erzählinstanz verwendet Anleihen an die Bilder von Caspar David Friedrich, um sowohl Caspars (der Katze) Vergangenheit bildhaft zu beschreiben als auch seine Gegenwart. Was die Stierkatze am Ende der Kanalisation in der Ferne sieht, wenn sie über ihre Herkunft sinniert, könnte direkt aus einem von Friedrichs Bildern stammen. Die Schiffe, deren Segel, der Nebel, die Wälder und die vereinzelten Figuren. Caspar David Friedrich spielte mit melancholischen Darstellungen und der Sehnsucht nach mehr, während die Stierkatze Caspar eben doch eine Katze ist und damit selbstzufrieden.

Die Katze und der Stier

Caspars Charakter und sein Verhalten sind angelehnt an Stiere und Katzen. So weit, so logisch. Er streicht entspannt umher, er rammt mit dem Kopf gegen die Wand wie ein Stier. Doch das ist zweitrangig. Die Stierkatze Caspar ist ganz besonders eines: unabhängig. Katzen kommen alleine zurecht, die meisten jedenfalls. Und auch jene, die es nicht tun, tun so als ob.

Dieser Charakterzug der Unabhängigkeit und auch der Selbstzufriedenheit bedingen das Verständnis der Freiheit dieser Figur. Anders als in Bad Luck II ist der Protagonist hier kein Mensch und muss sich nicht so verhalten. Er braucht niemanden und beinahe würde ich sagen wollen, dass er auch niemandem wehtut; das ist allerdings nur insofern wahr, als dass ihm die Mäuse entwischen und die Gefühle der Menschen, die ihn aufnehmen und die er wieder verlässt, nicht erwähnt werden.

Caspars Freiheit

Caspar ist frei, weil er ohne andere sein kann, aber sich dennoch entscheidet, mit ihnen zusammen zu sein. Er ist ein Einzelgänger, aber er schließt sich anderen an. Natürlich, er ist egoistisch und nimmt sich, was er braucht. Gleichzeitig gibt er aber auch. Der kleine Junge am Ende der Geschichte freut sich und ihm ist es egal, ob Caspar in einer der folgenden Nächte vielleicht die Wand in der Küche kaputt macht. Caspar ist sympathischer als Trip (in Bad Luck II), weil er eben wie eine Katze ist: unabhängig, untreu und doch zärtlich. Aber das ist nur unsere Perspektive.

Schmusetiger für die einen, Monster für die anderen

Harmlos ist Caspar nicht. Die Jagdlust, die Begierde nach Blut und Tod, die er spürt, kann man als Symbole der Freiheit lesen. Ein Mann allein im Wald mit einem Speer. Man möchte grunzen vor Euphorie. Aber für jeden stolzen Mörder gibt es eine Apokalypse am anderen Ende der Gleichung.

Wie oben gesagt, ist Caspar kein Mensch. Daher erlaubt man ihm mehr. Er ist aber dadurch auch näher an den Tieren, die er zu erlegen versucht.

Das hatte ich, ganz ehrlich gesagt, beim Schreiben nicht bedacht. Aus Sicht der Mäuse ist Caspar ein Monstrum. Er ist riesengroß und hat Spaß daran, sie zu töten und zu fressen. Zum Glück entkommen sie ihm. Ist seine Freiheit damit doch nicht besser als jene von Trip oder betrachten wir die Mäuse als Spielerei – vielleicht wie die unzähligen nebensächlichen „Lieb“schaften (d.h. Gelegenheitsficks) in der Männerliteratur? Treiben wir es nicht zu weit. Ich gerate schon ins Schwitzen dank meiner eigenen Kritik.

Die gefaltete Zeitung

Während Caspar durch die Kanalisation strotzt, fährt ein Schiffchen an ihm vorbei. Es ist aus Zeitungspapier gefaltet und zeigt einen Mann mit einem Buch in der Hand. Dann haut Caspar es um und es versinkt im Kot-Fluss. Es ist wohl naheliegend, an welches Bild ich gedacht habe, oder? An dieses hier: Zeitungsartikel

Leider war ich nicht ausgebufft genug, um das Foto des Zeitungsartikels zu Erschütterungen. Dann Stille. zu meinen und es entsprechend zu gestalten – obwohl es auch halbwegs passt. Auf dem vollständigen Bild stehe ich mit Buch in der Hand.

Jaja, die alte Autorenarroganz. Es reicht nicht, dass ich die Geschichte schreibe, ich muss mich auch noch selbst hineinschreiben. Wartet ab, bis ihr Der Spinner gelesen habt! Wenigstens ist es eine ironische Selbstdarstellung. Es passt außerdem hübsch zum Titel. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht und aus einem Zeitungsartikel über mich ein Schiffchen gebastelt und es dann – gab es da nicht so eine Szene in ES? – in den Gully segeln lassen. Immerhin eine Beschäftigung mit mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Gen Pop

Über die Erzählung “Gen Pop” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Kaputter macht Kaputten kaputter. Willkommen in unserer Gesellschaft. Gen Pop ist ein kurzer Text über Selbst- und Fremdwahrnehmung oder eine Geschichte über menschliche Abgründe. Erschütterungen. Dann Stille. hat mehrmals solche Geschichten zu bieten. Im Folgenden wird gespoilert werden. Lest am besten zuerst den Text und dann diesen Blogeintrag.

Content Notes: Gefangenschaft, Vergewaltigung(sandrohung)

Alleine sind wir stark

Mike ist die Vorstufe des Ich-Erzählers. Er ist einer von uns. Mike ist arrogant, wenn wir dem Erzähler glauben dürfen, hält sich für besonders und alle anderen für weniger wert. Mike ist, was ich einmal gewesen bin. In meinem Teenager-Kopf hießen sie nicht „Gen Pop“, sondern „Statisten“. Alle waren Statisten in einem Film, der sich nur um mich drehte. Das ist nur einen Hauch entfernt von waschechtem Solipsismus.

Mit der Zeit habe ich gelernt, dass es nicht nur mir schlecht gehen kann, sondern auch anderen. Schmerz adelt, aber nicht für sich, sondern durch seine Auswirkungen, durch das verstärkte Mitgefühl, durch mehr Empathie und dadurch, dass wir daraus lernen. Schmerz adelt, wenn er uns nicht zu Monstern macht, sondern zu besseren Menschen. Besser, als wir vorher waren. Der Ich-Erzähler ist nicht geadelt, sondern pervertiert. Er sieht nicht sich selbst in Not in Mike, sondern eine Herausforderung seiner eigenen Sonderstellung. Vielleicht meint er sogar zu helfen, indem er Mike endgültig ruiniert.

Die Wahrheit stinkt

Jede Nische meines Verstandes war mein eigen, ich hatte keine Geheimnisse mehr vor mir. Ihr könnt euch den Gestank nicht vorstellen […]

Diesen klitzekleinen Part mag ich besonders. Der zweite Satz bezieht sich im Gesamtkontext auf den Kellerraum, in dem der Ich-Erzähler 14 Tage lang ohne Möglichkeit ordentlicher Körperhygiene verbracht hat. Zoomt man allerdings heran, wie ich es oben getan habe, schneidet nur diesen Part aus, bezieht sich der Gestank auf die Innenwelt des Sprechers. Er hat jede Ecke seiner Persönlichkeit mit offenen Augen gesehen, selbst die dreckigsten Stellen. Das könnte befreien, zerstört aber hauptsächlich.

Ein Gegenteil von Gen Pop

Es gibt mehrere mögliche Gefängnisexistenzen außerhalb der Normalbevölkerung. Eine Variante, eben die, um die es geht, ist Einzelhaft. Eine Strafe, die die wenigsten vertragen können. Der Mensch ist ein derart soziales Wesen, dass er lieber unter Mördern und Vergewaltigern leben möchte, als komplett allein zu sein. Schlimmer: als ohne Ablenkung mit sich selbst allein zu sein. 14 Tage Einzelhaft brechen wohl die meisten.

Man bedenke als nächstes, dass es amerikanische Hochsicherheitsgefängnisse gibt, in denen sämtliche Gefangenen 23 Stunden pro Tag allein in ihren Zellen verbringen, damit es nicht zu Zwischenfällen unter den Insassen kommt. Meiner Meinung nach ist das grausam. Allerdings findet das in einem Land statt, in dem der Gefängnisbetrieb immer mehr privatisiert wird, Firmen an Gefangenen (und deren Billigarbeit) verdienen und Gewalt jedweder Form in Gefängnissen an der Tagesordnung ist.

Ist euch mal aufgefallen, dass es inzwischen ein gängiges Motiv in amerikanischen Krimi-Serien ist, dass die Polizist*innen Verdächtigen nicht mit dem Gefängnis an sich, sondern mit Vergewaltigungen dort, drohen? Abartig.

US-amerikanische Kulturhegemonie

Warum kenne ich überhaupt Begriffe wie „Gen Pop“ und weiß besser über das Gefängniswesen der USA Bescheid als über das deutsche? Die Antwort liegt in den Sümpfen der Kulturhegemonie versteckt. Wir werden von Kindheit an mit amerikanischen Werten und Werken bombardiert: Musik, Filme, Serien, Spielzeug. Obwohl die Chinesen sich mehr und mehr in Hollywood einkaufen und japanische Animes einen Teil der Kindererziehung übernommen haben, gehört der Großteil des Einflusses noch immer den USA. Viele unserer Ideen stammen von dort. Wir sind niemals unbeeinflusst.

Mir ist bewusst, dass diese Gedanken recht weit entfernt liegen vom Kern der Geschichte, und dennoch lohnt es sich, gelegentlich darüber nachzudenken, wo die eigenen Ideen, Vokabeln und Vorstellungen herkommen und wieso sie in unseren Köpfen stecken. Globale Entwicklungen sind nicht immer global im Sinne einer von überall her stammenden Entwicklung, sondern zu häufig im Sinne einer Entwicklung, die von einem Ort (bewusst) ausgeht und sich dann weltweit verbreitet.

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Tod in Porto I

Über “Der Tod in Porto I: Die Springer” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Zwei Geschichten in Erschütterungen. Dann Stille. habe ich mit Der Tod in Porto betitelt. Zur Unterscheidung gibt es Der Tod in Porto I: Die Springer und Der Tod in Porto II: Abschied. Beide Erzählungen haben als Thema den Tod und als Schauplatz die Stadt Porto (oder ihre unmittelbare Umgebung). Ansonsten existiert keine inhaltliche Verbindung zwischen beiden, wohl aber Verbindungen anderer Art. Wer Der Tod in Porto I: Die Springer noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern im folgenden Text gewarnt.

Content Note: Suizid

Entstehung

Vor einer Weile habe ich einen Familienurlaub in Porto gemacht. Obwohl wir gemeinsam verreisen, trennen sich unsere Wege immer an mindestens einem Urlaubstag und jede*r zieht allein los. An meinem Tag allein in Porto bin ich hauptsächlich herumspaziert, habe Notizen gemacht und habe gegessen. Es war ein guter Tag mit schwarzen Burgern und guten Ideen. Am Ende des Urlaubs standen die Pläne für beide Porto-Texte. Sie sollten kurz darauf in einer ersten Version umgesetzt werden und wurden für Erschütterungen. Dann Stille. erheblich überarbeitet.

Die morbide Schönheit Portos / L’Appel Du Vide

Ich bin ein morbider Typ. Ich mag Friedhöfe, Ruinen und Stellen, von denen aus man in den Tod stürzen könnte. Daher kenne ich das Gefühl des L’Appel Du Vide, des Rufes der Tiefe, sehr gut. Der Begriff bezeichnet das Gefühl, das man gelegentlich an hohen Stellen hat: Eine Art Sog in den Abgrund, den entfernten Wunsch abzuspringen. Man steht weit oben und denkt, nur ganz kurz, warum eigentlich nicht?

Porto ist auf beiden Seiten des Douro an die Hänge gebaut und mehrere Brücken, davon eine, die Ponte Luiz, zentral, überspannen den Fluss. Die Ponte Luiz hat zwei Ebenen, von denen die untere etwa 5 Meter über dem Fluss verläuft und die obere etwa 60 Meter. Von oben zu stürzen, wäre tödlich. Man gelangt von der Brücke aus am einen Flussufer recht schnell zur alten Klosterfestung, die noch etwas höher über dem Meeresspiegel liegt. Von oben aus kann man hinabschauen in ausgebrannte Häuser, deren Fassaden von der Straße aus noch intakt wirken, und weit den Fluss entlang und über die Stadt blicken.

Worauf ich hinauswill, ist, dass Porto voller Ruinen (neuer und alter) ist, es Armut abseits der Hauptwege und unzählige Stellen gibt, von denen aus man in den Tod stürzen kann.

Die schwarze Pest

Als die Pest in Europa wütete, schien für viele Menschen der Weltuntergang nahe, und mit jedem gestorbenen Menschen ist auch ein Stück der Welt verloren gegangen. Allerdings führte das große Sterben im Nachhinein auch zu weniger Knappheit und mehr Wohlstand. Diesen Vorgang sowie die Grundfunktion des kapitalistischen Marktes, Angebot und Nachfrage, wollte ich in das Todesszenario von Der Tod in Porto I: Die Springer einbauen.

Schon wieder Ethik

Der Tod in Porto I: Die Springer erzählt eine obszöne Geschichte und der Erzähler tut das ganz locker, um einem Gast die Wartezeit aufs Essen zu verknappen. Das steht im klaren Kontrast zu den moralischen Fragen, die die Erzählung aufwirft: Darf man vom Elend anderer profitieren? Wie sehr darf man davon profitieren? Ist jede Lösung akzeptabel, sofern das Problem hinterher nicht mehr existiert? Was ist unsere Rolle in der kapitalistischen Maschinerie? Wie häufig machen wir die Augen vorm Elend zu und wie häufig mischen wir direkt oder indirekt mit?

Diese Geschichte bietet wenig Antworten, aber ich hoffe sehr, dass sie zu Gedanken und Fragen anregt.

Fragwürdiger Typ

Auch wenn er nicht beschrieben wird, habe ich eine ganz klare Vorstellung vom Ich-Erzähler. Diese werde ich hier nicht darstellen, um Leser*innen in dem Bereich nicht zu beeinflussen. (Mich würde aber interessieren, wie Ihr euch den Typen vorgestellt habt. Schreibt mir gerne dazu!) Allerdings lasse ich einige Details durchblicken. Der Erzähler macht ein paar (unbedachte?) Bemerkungen, die aufmerksame Leser*innen aufhorchen lassen sollten.

Ein Beispiel wäre der Satz: Aber wir mussten ja alle irgendwie leben, nicht wahr? Dieser Satz fällt, nachdem der Erzähler von den Vermittlern berichtet, die Todesspringer managen und animieren. Zwar kann man den Satz sehr allgemein lesen und das wir mussten nicht wörtlich nehmen, sondern im Sinne eines man musste. Aber einerseits wäre auch das eine Relativierung des unglaublichen Leids, das in der Stadt herrschte und von den Vermittlern noch verschlimmert worden ist, andererseits steht dort nun einmal wir und der Erzähler scheint ungewöhnlich häufig in der Nähe der Springer gewesen zu sein.

Schlimmer noch ist, dass er zwischendurch geradezu ins Schwärmen gerät, während er berichtet. Das passt zu der seltsamen Grundtatsache der Geschichte, dass sie einem Hotelgast vom Gastgeber vorm Essen berichtet wird. Eigentlich ist das keine Story, die man mit jemandem teilt, der Urlaub machen möchte. Offensichtlich gibt es also einen Drang, all das zu berichten.

Der junge Springer

Das i-Tüpfelchen meiner Inspirationsreise, nachdem ich die Ruinen und die Punkte gesehen hatte, von denen aus man stürzen könnte, den L’Appel Du Vide gespürt und bereits die meisten Ideen gesammelt hatte, beobachtete ich zwei Teenager. Der eine Junge trug einen Neoprenanzug und stand auf der unteren Ebene der Ponte Luiz. Der andere Junge sammelte Geld ein. Als er genug hatte, stieg der erste auf die Brüstung und sprang in den Fluss. Plötzlich passte alles zusammen.